24. Jahrgang | Nummer 12 | 7. Juni 2021

Einsamkeit als fehlgeleiteter Individualismus

von Ulrich Busch

Martin Hecht, ein umtriebiger Publizist und erfahrener Politik- und Sozialwissenschaftler aus Mainz, hat mit der vorliegenden Publikation „Die Einsamkeit des modernen Menschen“ ein aktuelles, höchst interessantes und sehr lesenswertes Buch verfasst. Bloß der Titel wurde falsch gewählt. Denn nicht die Einsamkeit ist das übergreifende Thema des Buches, sondern der moderne Individualismus, seine Erscheinungsformen in der Gegenwart und die mit ihm verbundenen Folgen für die westlichen Demokratien. Das Phänomen „Einsamkeit“ ist hierin zwar implementiert, für die Gesamtaussage des Buches aber eher von nachgeordneter Bedeutung. Über weite Strecken fehlt sogar jeder Bezug, was schade ist, denn die Einsamkeit des modernen Menschen ist gegenwärtig für viele ein Thema von hoher Aktualität.

Der Autor offenbart sich in seinem Buch als glühender Anhänger des „Individualismus“. Zugleich aber tritt er auf als sachkundiger Kritiker zahlreicher Erscheinungsformen und Perversionen desselben in unserer Zeit. Indem er diesen Erscheinungen den Emanzipationsanspruch und die Freiheitsidee des europäischen Individualismus der Renaissance und der Aufklärung gegenüberstellt, entwickelt er die nötigen Argumente, um die heutige Entartung des Individualismus und die davon ausgehenden Gefahren für die demokratische Ordnung aufzuzeigen. In diesem Kontext wird herausgearbeitet, dass die Verwirklichung der bürgerlichen Freiheiten in der „Moderne“ mit der Herauslösung der Menschen aus ihren traditionellen Bindungen einherging, was zu ihrer „Vereinzelung“ geführt hat. Diese Vereinzelung wird dann unter bestimmten Bedingungen von den Menschen als „Vereinsamung“ empfunden und subjektiv als ein Zustand von „Einsamkeit“ reflektiert. Diese Einsamkeit aber ist kein glücklicher Zustand, kein „Paradies“, sondern psychologisch betrachtet eine eher grenzwertige Erfahrung. Irgendwann schlägt sie um in „Protest“, „Wut“ und „Widerstand“. Schließlich lautet die politische Konsequenz: „Populismus“, „Desintegration“, „Hass“, „Amok“, „Rache“ und „Gewalt“.

Was kann man tun, um die demokratische Gesellschaft davor zu bewahren? Die Antwort des Autors läuft darauf hinaus, wieder mehr „Gemeinsinn“ zu entfalten, die uneingelöste Idee der „Brüderlichkeit“ zu reaktivieren und die ökonomische Bildung durch ethische Zusätze zu erweitern. Alles in allem soll es darum gehen, „die Ursachen der Vereinsamung des modernen Menschen anzugehen, und nicht darum, die Konsequenzen zu verwalten“. – Nun gut, das Buch bietet dafür eine Reihe von Ansatzpunkten, analytisch wie konzeptionell. Besonders hervorzuheben sind die klugen Beobachtungen des Autors bestimmter Phänomene des heutzutage fehlgeleiteten Individualismus, wie sie sich unter den Stichworten „Event“, „Tattoos“, „Jogging“, „Sport“, „Selfi“, „Narzissmus“, „Arroganz“ und „Geschmeidigkeit“ finden. Insgesamt überwiegt jedoch eine eher feuilletonistische, denn stringent wissenschaftliche Behandlung der Problematik. Dies zeigt sich in der mitunter eigenwilligen, aber nicht immer eindeutigen Terminologie des Autors sowie in seinem Umgang mit den Quellen und der verwendeten Literatur. Es wird viel zitiert, durchaus korrekt, aber ohne exakte Quellenangaben. Und das Literaturverzeichnis weist nur einen Teil der verwendeten Literatur aus, teilweise auch Nebensächliches, während selbst zitierte Haupt- und Standardwerke fehlen. Zum Beispiel: B. Pascal, J. J. Rousseau, F. Nietzsche, J. Schumpeter, M. Heidegger, W. Lepenies und G. Jung. K. Marx wird indirekt zitiert, sein Name wird aber nicht genannt.

Ein Mangel des Buches ist darin zu erblicken, dass trotz aufmerksamer Lektüre letztlich unklar bleibt, was der Autor unter dem Begriff „Einsamkeit“ versteht und wie er diesen von solchen Termini wie „Alleinsein“, „Für-sich-Sein“, „Verlassenheit“ und „sozialer Isolation“ unterschieden wissen will. Mitunter entsteht der Eindruck, er grenzt diese Begriffe gar nicht voneinander ab, sondern verwendet sie willkürlich und als Synonyme. Dem kann nicht gefolgt werden. Als problematisch erscheint auch, dass der Autor seine gesamte Abhandlung ideengeschichtlich angelegt hat. Sicher lässt sich mit Goethe trefflich darüber streiten, ob am Anfang „das Wort“ war oder „die Tat“. Bei Martin Hecht aber gibt es nur das Wort. „Individualismus“ und „Einsamkeit“ werden hier als reine „Denkfiguren“ begriffen, die sich unabhängig von den materiellen Verhältnissen und Prozessen herausbilden und entwickeln. Es fehlt sozusagen die „Erdung“ dieser Begriffe.

Weiter lesen wir, dass es „der Kapitalismus“ sei, der „strukturelle Einsamkeit erzeugt“. Das ist zutreffend, aber was versteht der Autor unter „Kapitalismus? Eine Idee, eine Religion, ein System ethischer Werte? Und wie vermag es der Kapitalismus, Einsamkeit zu generieren? Im Buch finden sich hierzu Antworten, die auf „Leistungsethik“ abstellen, auf „Erfolgsethik“, auf „Gewinnstreben“, auf einen „Wertewandel“ und eine „materialistische Konsumgesinnung“, auf eine „religiöse Idee“ (Calvinismus, Puritanismus), auf bestimmte „Ideologien“ und anderes Ideelle mehr. Das ist alles richtig, klammert aber doch Wesentliches aus, nämlich die Produktion, die Entwicklung der Produktionstechnik, die Produktionsverhältnisse, die Arbeitsteilung, die „große Industrie“, die Wirtschaft überhaupt. Was in dem Buch durchweg fehlt, ist eine Bezugnahme auf die wirtschaftliche Entwicklung. Bei der Lektüre des Textes stößt man immer wieder auf unvollständige Ableitungsketten, die mit einer Idee beginnen und mit einer solchen enden, während die materielle Welt, die Welt der Arbeit und der Wirtschaft, unerwähnt bleibt. Man ist deshalb als Leser des Öfteren versucht, auf den betreffenden Seiten das legendäre Bill-Clinton-Zitat „It’s the economy, stupid!“ am Rande hinzuzusetzen. Nicht dass hier einem primitiven Wirtschaftsdeterminismus das Wort geredet werden soll, aber für den Autor ist die Wirtschaftssphäre offenbar so etwas wie ein Tabu. Deshalb überzeugen die Quintessenz des Buches und der vorgestellte Lösungsansatz, wonach der Kapitalismus den Individualismus korrumpiert, deformiert und pervertiert habe und dieser nun wieder davon befreit werden müsse, nicht. Und ob die Einsamkeit allein durch eine Vollendung des „Individualismus-Projekts“ überwunden werden könne, bleibt auch eine offene Frage.

Martin Hecht: Die Einsamkeit des modernen Menschen. Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht, Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2021, 204 Seiten, 18,00 Euro.