Autobiographischem aus Politikerfeder ist grundsätzlich zu misstrauen. Historiker wissen, dass dessen Quellenwert gegen Null tendiert. Noch dazu, wenn sie sich eines Ghost Writers bedienen und in dickleibigen Wälzern die Geschichte ihrer Familie wenn nicht gleich „ab urde condita“, so doch mindestens mit irgendwelchen prae-russischen Großfürsten beginnen.
Vor solchen Anfechtungen ist die LINKE-Politikerin Petra Pau verschont geblieben. Die Geschichte ihres politischen Lebens wäre aber schon interessant. Sie hat Höhen und Tiefen ihrer Partei durchlebt und durchlitten. Heute würde man (wieder) sagen, sie stammt aus kleinen Verhältnissen, noch dazu aus der DDR, und hat sich immerhin zu einem der wichtigsten Ämter dieser Republik hochgearbeitet. Petra Pau ist seit April 2006 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Bei Quintus erschien jetzt ein kleines Bändchen mit 44 kurzen Texten aus ihrer Feder, die sie im Untertitel „Anekdoten“ nennt. Anekdotisches ist dabei, das Schmunzeln und manches, das eine Zornesfalte über die hiesigen Verhältnisse auf der Stirn anschwellen lässt. Das Bändchen enthält aber auch politische Reminiszenzen der Autorin, die sie gern mit einer rhetorischen Frage beendet. Auf manches gibt es derzeit einfach keine abschließende Antwort – etwa wenn sie über die Gefahren der Künstlichen Intelligenz nachdenkt und dabei eben nicht der bei Politikern so häufigen Verführung erliegt, zu behaupten, sie wisse um die Lösung … Manches kommt aber auch leicht agitatorisch mit dem erhobenen Zeigefinger daher – etwa wenn sie über die Bezahlung der Mitarbeiter des Deutschen Bundestages schreibt. Und manches ist ein wenig auf Krampf konstruiert – etwa wenn sie ihrem Einsatz für ein bedingungsloses Grundeinkommen unbedingt eine religiöse Grundierung zu verpassen sucht und dabei das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1-16) strapaziert.
Absolut lesenswert sind ihre Berichte über die tagtäglichen Erfahrungen mit dem Politikbetrieb unseres Landes: „Einzeltäter“, „Gefährder“, „Jamaika-Aus“ und etliche andere mehr. Manches geht über das bloß Anekdotische hinaus: „Demokratie wagen“ oder der sich oberflächlichem Optimismus verweigernde Text „Aufwachen“. Dass sich Petra Pau an ihrem politischen Konkurrenten Wolfgang Thierse reibt ist nachvollziehbar. Ihm allerdings neben Wilhelm von Boddien quasi die Hauptschuld am Abriss des Palastes der Republik zuzuschieben, ist ein wenig zu viel der „Ehre“ für den Herren. Fairerweise müsste auch das Einknicken der Genossen des eigenen Landesverbandes in der Abrissfrage benannt werden. Das ICC ist – anders als die Autorin behauptet – bis zum heutigen Tag nicht saniert. Allerding steht es noch. „R2G“ verweigert den Abriss …
Mir sehr sympathisch ist einer der letzten Texte des Bändchens: „Sandmännchen“. Dort erwähnt Petra Pau ihre Bekanntschaft mit der Schauspielerin Urte Blankenstein. Der Name wird möglicherweise manchen nicht vertraut sein. Deren wohl populärste Rolle mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit aber doch: Urte Blankenstein erschien von 1968 bis 1988 auf dem abendlichen Bildschirm des DDR-Fernsehens als Frau Puppendoktor Pille im „Sandmännchen“. Sie war nicht die erste „Frau Dr. Pille“, 1959 war das Helga Labudda, ihr folgte von 1963 bis 1968 Angela Brunner. Urte Blankenstein prägte diese Figur aber so entscheidend, dass sie wohl auf alle Zeiten mit ihr im Zuschauerbewusstsein verwachsen sein wird. Bis vor kurzem – Covid-19 hat das wie alle ähnlichen Projekte ihrer Kollegen leider zum Stillstand gebracht – war die Künstlerin mit einem „Puppendoktor-Pille-Programm“ auf Reisen.
Zusammen mit Frank Nussbücker hat Urte Blankenstein ihr Leben aufgeschrieben. Ich mag dieses Buch sehr. Es ist die Geschichte eines Flüchtlingskindes aus Ostpreußen, das sich tapfer durch das Leben mit all seinen Widrigkeiten kämpft – immer mit dem Ziel, Schauspielerin sein zu wollen, auf der Bühne und vor der Kamera den Menschen Freude zu bringen. Urte Blankenstein berichtet mit großer Erzählfreude von vielen Dingen des Alltags, die manchem „Großkünstler“ aufgrund ihrer scheinbaren Banalität nie über die Lippen kommen würden – so vom Planschen ihres kleinen Sohnes Mathias in einer Plastikwanne unter dem Küchenfenster einer ansonsten durchaus erbärmlichen Hinterhauswohnung. Mit Foto!
Überhaupt die Kindheit … Urte musste als Kind mit ihrer Schwester einige Zeit in verschiedenen Kinderheimen der noch jungen DDR zubringen. Der alleinerziehenden Mutter – sie spricht immer nur von „meiner Mutti“ – war während ihres Studiums die Betreuung der Kinder nicht möglich. Inzwischen gehört es zu den weit verbreiteten Versatzstücken des deutschen Billig-Journalismus’ – und den stereotypen Bildungspolitiker-Phrasen von rechts bis links! – auch die Kinderheime der DDR nur im Zusammenhang mit Zwangsadoptionen, sexuellem Missbrauch und mindestens mit kindlicher Zwangsarbeit zu erwähnen. Die Autorin nimmt darauf Bezug: „Immer, wenn ich irgendwo erzähle, dass ich mehrere Jahre im Kinderheim gewesen bin, werde ich bedauert, weil das ja […] eine schreckliche Zeit gewesen sein muss.“ Urte Blankenstein erzählt vom Schrecklichsten, was ihr widerfuhr: „Makkaroni-Essen war für mich wie Schlauchschlucken.“ Und montags gab’s entweder Milchreis mit Zucker und Zimt oder eben Makkaroni mit Tomatensoße. Ansonsten lautet ihr politisch inkorrektes Fazit: „Wir erlebten ein besorgtes Behütetsein im Kinderheim!“ Allein für diesen Abschnitt ihres Buches bin ich der Autorin zutiefst dankbar!
Ich lege diese Lebenserinnerungen einer liebenswerten Künstlerin allen ans Herz, die wissen wollen, wie in der DDR Fernsehen gemacht wurde, wie das Alltagsleben von Künstlerinnen und Künstlern ablief, die vertraglich an die Konzert- und Gastspieldirektion gebunden waren – und wie es viele geschafft haben, trotz übelster Degradierungsversuche in den frühen 1990er Jahren ihrem Publikum die Treue zu halten und auch „im Westen“ ihre Frau oder ihren Mann zu stehen. Warmherzig berichtet Urte Blankenstein über viele Begegnungen mit Künstlern wie dem Zauberpeter (Peter Kersten), Gisela Oechelhäuser, Peter Wieland, Gunter Sonneson, Dagmar Frederic und und und …
Als Kind mochte ich die „Frau Puppendoktor Pille“ nicht. Ich witterte den erhobenen Zeigefinger … Das hat sich geändert. Wie gesagt, ich liebe ihr Büchlein.
Aber vielleicht hat mancher auch eine angenehmere Erinnerung an die Künstlerin, als Zahnweh mit darauf folgender Belehrung? Immerhin hat Urte Blankenstein über 20 Jahre hinweg immer wieder auch „Tele-Lotto“ moderiert. Da müssen doch Gewinner dabei gewesen sein, die sich das sympathische Gesicht der Moderatorin eingeprägt haben. Ich hatte das völlig vergessen. Meine Tipp-Scheine waren immer Nieten. Aber Frau Puppendoktor Pille, die hat sich tief eingeprägt …
Petra Pau: Gott hab sie selig. Neue Anekdoten von anomal bis digital, Quintus, Berlin 2021, 104 Seiten, 10,00 Euro.
Urte Blankenstein. Mit Frank Nussbücker: Habt ihr Kummer oder Sorgen …. Mein Leben als Frau Puppendoktor Pille. Autobiographie, Bild und Heimat, Berlin 2020, 256 Seiten, 17,99 Euro.
Schlagwörter: Die Linke, Fernsehen der DDR, Petra Pau, Urte Blankenstein, Wolfgang Brauer