24. Jahrgang | Nummer 10 | 10. Mai 2021

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Ein Faun unter Menschen“ – Dokfilm über den Tanzstar Alexander Swain / Seid Ihr alle daaa? – Unser Kasperletheater ist Kulturerbe / Das liebe Publikum – Eine Berliner Statistik.

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„Phänomenal“, „genial“, „Höhepunkt der neuen Tanzkunst“ rühmte die europäische Kritik. Und feierte Alexander Freiherr von Swaine als einen Tänzer, der wie noch keiner vor ihm das Klassische und das Expressive in eins brachte. Die erstaunte Fachwelt jubelte, wie das hingerissene Publikum die „tanzende Feuerseele“ feierte. Als „Halbgott und Teufel“.

Der Freiherr galt als „Bester seiner Zeit“. Doch heute – wir halten verwundert inne ‑ ist der einstige deutsche Weltklassetänzer (1905–1990) seltsamerweise nahezu unbekannt. Zwei Herren vom Fach und Enthusiasten dieses bedeutenden Künstlertums, der Tanzwissenschaftler Ralf Stabel sowie der Filmemacher und Grimme-Preisträger Felix von Boehm, haben sich auf akribische Spurensuche begeben. Um endlich das Achterbahn-Leben dieses weltbürgerlichen Freiherrn in dem pointiert kommentierten Porträtfilm „Ein Faun unter Menschen“ lebendig werden zu lassen.

Alexander von Swaine, alter Adel aus steinreichem Haus in München, durchlief die berühmte, klassisch-russische Schule der kaiserlichen Ballerina Eugenia Eduardowa, die er später, das nebenbei, als „schauderhaft“ empfand. Eugenia wiederum nervte zwar sein sagen wir Modern Style, dennoch begriff sie sein Genie und küsste ihn. Nach seinem ersten öffentlichen Auftritt an ihrem Institut in Berlin-Schöneberg anno 1929.

Sofort war klar: Ein Stern geht auf! Swaine wurde schlagartig bekannt als „spektakuläre Hoffnung für den Tanz in der Reichshauptstadt“. Zwei Jahre später, 1931, startete der Glückselige seine Solokarriere im Beethoven-Saal der Berliner Philharmonie. Und prompt verglich man ihn mit Stars wie Harald Kreutzberg oder Vaslav Nijinski.

Swaine avancierte mit „bester klassischer Schulung“ und zugleich „souveränem Einsatz vielfältig freier Formen“ zum Superstar der Berliner Bühnen. Für nicht wenige war er gar die Nummer eins seiner Zeit. Max Reinhardt engagierte ihn, zahlreiche Filmproduktionen sorgten für große Auftritte nebst hohen Gagen.

Doch Swaine, ehrgeizig, kreativ, besessen und als vermögender Erbe in Geldsachen fahrlässig unbekümmert, sah sich vor allem als Alleinherrscher der Bühne. Er nutzte technische Perfektion und einzigartige Ausdruckskraft („lebendige Physiognomie, vornehm, kraftvoll, zugleich fragil“ schrieben Kritiker) und er verließ sich auf seine privilegierte Situation (Inhaftierung als Homosexueller, „Begnadigung“ durch Goebbels) für den konzentrierten Auf- und Ausbau einer selbstbestimmten Solisten-Karriere. Mit eigenen Programmen gastierte der hochmögende Exzentriker und begeisternder Avantgardist in Europas Tanzmetropolen, reiste als Weltberühmtheit um die halbe Welt – freilich zwangsweise auch als NS-Aushängeschild. Bis 1939. Dann kam der Krieg, der stoppte alles.

Es folgten Internierung im damals niederländischen Indonesien, ein Haftlager in Indien, 1945 Rückkehr nach Heidelberg, ein Zwischenspiel Kammertanz in Westdeutschland zusammen mit Lisa Czobel. Mit ihr wieder Tourneen, auch nach Fernost. Dann der Sprung nach Mexiko, wo er bis zuletzt als dürftig honorierter Lehrer einer Ballettschule wirkte. Eine wirkliche Heimat aber fand Swaine – auch im Privaten – letztlich nirgendwo. Er blieb ein Ruheloser. Ein ewig Flüchtender?

Derlei ins Psychologische ragende Fragen lassen Stabel und Boehm klugerweise offen in ihrer Dokumentation der Swainschen Lebenslinien. Sie erzählen mit Empathie, dabei aber ganz sachlich und gerade dadurch so spannend ein abenteuerliches Künstlerdasein. Wobei die Rechercheure (beide geboren nach 1960) das Glück hatten, für Interviews Kenner oder zeitweilige Weggefährten Swaines aufzuspüren.

„Ein Faun unter Menschen“ (Lupa Film) zeigt ein Schicksal, eingebettet in die Zeitläufte. Zugleich wird – gut verständlich nicht nur für Leute vom Fach ‑ ein Stück deutsche Tanz- und Kunstgeschichte in extrem gegensätzlichen Zeiten und Welten beleuchtet. In 40 berührenden Minuten fügen die Autoren dem doch unerschöpflichen Thema „Deutschland, deine Künstler“ eine schillernde Facette hinzu – nicht zuletzt auch als ein Dokument gegen das Vergessen.

Der TV-Sendetermin steht noch aus. Jederzeit abrufbar online über vimeo. Läuft aktuell in der Ausstellung „Der absolute Tanz. TänzerInnen der Weimarer Republik“, Georg-Kolbe-Museum Berlin. Geplant: 25. April bis 29. August (bitte aktuelle Öffungszeiten beachten). Dazu: Ralf Stabel, „Alexander von Swaine. Tanzende Feuerseele“, Henschel Verlag, Berlin 2015.

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Seit Ende des 18. Jahrhunderts tobt die Puppenfigur namens Kasper durch den deutschen Sprachraum. Eine clowneske, aufmüpfige, ungeniert unliebsame Wahrheiten frech ausschreiende Figur im buntkarierten Rock. Dazu rote Zipfelmütze, Grins-Gesicht, spitze Nase und Klatsche in der Hand. Zur Züchtigung der Bösen und des allgemein Bösen gleich mit. Heute könnte man sagen, die Volksfigur ist ein Kabarettist, Satiriker, Comedian mit großer Klappe und wachem Verstand.

Nun hat die Kultusministerkonferenz das „Kasperletheater“ in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Deutschland aufgenommen. Weil es einst auf den Straßen und Märkten „als gefürchtete kritische Stimme sich zur Wehr setzte gegen Obrigkeit und boshafte Fabelwesen“. So ein bisschen hochtrabend die Begründung. – Und jetzt, ausnahmsweise zum Schluss, die berühmte Anwesenheitsfrage. Wir rufen ein kräftiges „Jaaa!“. Und ein Hoch dazu auf unsern tapfer die Klatsche schwingenden Freund, den wir lieben von Kindheit an.

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Der Kultursenator will’s mal wieder wissen und fragt: Lieben Berliner die Berliner Kultur? Eine Studie, was sonst, soll Antwort geben. Vom dazu passenden Institut, nämlich dem für „Kulturelle Teilhabeforschung“.

So wurden zwischen Juni und Oktober 2019 13.000 zufällig ausgewählte Bürger und Bürgerinnen befragt. 27 Prozent antworteten auf den Fragebogen, die 3400 Rückmeldungen gelten statistikwissenschaftlich als relevant. Jetzt wurde auf 87 Druckseiten das Ergebnis veröffentlicht.

Die gute Nachricht: Zwei Drittel der 3400 sind fast hundertprozentig zufrieden mit dem „hauptstädtischen Kultur- und Freizeitangebot“. Die nicht so gute Nachricht: Es bleibt ein Drittel „Rest“. Der ist unzufrieden und meint, die Angebote richteten sich eher nicht an Menschen „wie mich“.

Ein Grund dafür: „Bauliche Barrieren“; gemeint sein sollen Schwellenängste; die Tempel der Hochkultur wirkten einschüchternd. Man traue sich da nicht rein. Und genau darin sieht der Senat eine Hauptaussage der Untersuchung. Zudem fordert er größere Diversität und Repräsentanz bezüglich Personal und Programm. Die Schwellenängstlichen sollen sich wiederfinden, auf den Bühnen. Man müsse mehr tun „für Zugänglichkeit und Ansprache“.

Apropos Ansprache. Ich ahne, damit ist vor allem Ästhetisches gemeint. Dazu äußerte sich Oliver Reese, Chef des Berliner Ensembles: „Vielleicht ist es hilfreich, bestimmte High-Tech-Ansprüche maßvoll zurückzufahren.“ Ein starkes Thema, eine spannende Geschichte, Menschen auf der Bühne, die sie packend spielen – das reiche doch. „Vielleicht haben wir vergessen, dass das Schauspiel der Kern unserer Kunst ist, und nicht die Fortsetzung des Seminarraums mit anderen Mitteln auf der Bühne.“

Ein weiterer Kritikpunkt: Kulturangebote würden „direkt vor Ort“, also in den Wohngebieten, für „mangelhaft“ gehalten. Freilich, das so genannte Hochkulturelle ist in Kiezen eher nicht leicht möglich (Opernhäuser stehen nun mal im Zentrum der Stadt). Was umgehend sehr gut möglich wäre ist, die fürs soziale Klima so heilsame Stadtteilkultur – Nachholebedarf! ‑ mit deutlich mehr Geld zu fördern.

Die Schwellenangst, die als ungenügend oder unpassend empfundene Zuwendung und Ansprache – das alles erscheint mir doch auch als ein Vorurteil, das aus Unkenntnis oder Trägheit erwuchs. Man muss sich schon ein bisschen selbst kümmern, Neugier haben, Unternehmungslust.

Übrigens, in der Studie kommt noch das Problem der „Vorbildung“ zur Sprache, ohne die, so meinen nach wie vor viele, die Kunst nicht verstanden würde. Ich will hier nicht auf die wie auch immer gearteten Informationsangebote der Institutionen verweisen, sondern muss an Oliver Reese denken. An gewisse Kunstproduktionen, die, wie er vorsichtig kritisiert, „absichtsvoll schwer zugänglich sind“. ‑ Ein Aufstöhnen kommt gelegentlich sogar von Szenekennern: „Also das tu ich mir nun nicht mehr an!“