Eine Fibel für Kulturbedürftige in Deutschland“ hatte Herbert Eulenberg seine „Schattenbilder“ untertitelt, spielerisch aneinandergereihte Kurzporträts zu Homer, Dante, Goethe, Balzac, Dostojewski, zu Bach, Beethoven, Offenbach, zu Riemenschneider, van Gogh, Paula Modersohn-Becker und zu vielen anderen. Schlaglichtartig scheint da jedes Mal zugleich das Umfeld auf und werden Querverbindungen gezogen. Ähnlich „Bunt Gemischtes“ über Götter und Gottgleiche ist schon aus der Antike überliefert. Der Dresdener Kunsthistoriker Gert Claußnitzer steht mit seiner zutreffender „Lichtpunkte“ zu benennenden Text- und Bildpräsentation „Gesichter und Zeiten“ gleichsam in dieser Tradition. In prägnanten Skizzen lässt der heute 86-Jährige an seiner Rundumschau über weitverästelte Tableaus und Rückschau auf bemerkenswerte Begegnungen teilhaben.
Um einzustimmen, wie sich ihm ein eigenes Universum erschlossen hat, sind seinen Reflexionen einige autobiografische Passagen vorangestellt. Frühe Kindheitserlebnisse sind mit den Jahren in Hadersdorf verknüpft. Um im gebräunten Schwarzenberg nicht in Bedrängnis zu geraten, gedachten die Eltern noch 1942, in Niederösterreich abtauchen zu können. Als „Marmeladinger“ wurde dort geschmäht, wer fremd war. Welcher Szenenwechsel, als am 8. April 1945 Rotarmisten einquartiert wurden! Auf dem Regal die Ausgaben der Büchergilde Gutenberg bewirkten Wunder. Mutter Claußnitzer – der Vater, Meister im Mehrfarbendruck, war 1945 in Lettland erschossen worden – avancierte zur Köchin, gewiss nicht nur sonntags mit einem Huhn auf dem Herd. Der Ausweisung aus Österreich 1946 schloss sich nach Zwischenaufenthalt im Schwäbischen die Übersiedlung nach Radebeul an. Es folgten Abitur, in Leipzig Studium der Kunstgeschichte, 1959 das Diplom bei Johannes Jahn mit einer städtebaugeschichtlichen Arbeit über die Angervorstadt von Chemnitz, schließlich das Lektorat im Verlag der Kunst Dresden bis 1991.
Das in diesem renommierten Haus unter Cheflektor Erhard Frommhold von Diether Schmidt, Eva Wohak, Gert Claußnitzer in zeitweiliger Gemeinsamkeit Realisierte zu würdigen ist hier nicht der Ort. Da ordnen sich den repräsentativen Monografien (Bosch, Čiurlionis, Dix, Falk, Felixmüller, Grosz, Heartfield, Drei sächsische Kathedralen, Majakowski, Malewitsch, Vaitkunas und so weiter) die kunsttheoretischen Schriften der „Fundus-Reihe“ zu (Barth, El Lissitzky, Fischer, Fraenger, Herzfelde, Lafargue, Lifschitz, Lunatscharski, Luxemburg, Schmidt …). Nicht weniger ambitioniert gemacht sind die 31-Seiten-Heftchen der Serie „Maler und Werk“ (Botticelli, Čelebonović, Eisler, Giotto, Glöckner, Lingner, Pauly, Wittig …), ein halbes Dutzend davon hat Claußnitzer selber verfasst und herausgegeben – gewissermaßen Fingerübungen zu seinen Publikationen über Curt Querner, Wolfgang Frankenstein, Peter August Böckstiegel, Heribert Fischer-Geising, über „Künstler in Dresden“, über „Malerei der Naiven“ und andere.
Die 1909 bei Bruno Cassirer veröffentlichten „Schattenbilder“ Herbert Eulenbergs waren 1929 – heute nicht mehr vorstellbar – in 90. Auflage erschienen. Für sie mag durchaus noch Christoph Martin Wielands Gewissheit gegolten haben, dass „alle wahrhaftig schönen Seelen durch eine Art von innerlicher Notwendigkeit zu tun angetrieben werden“, wonach es geboten sei, sich dem höchsten Grad der Verschönerung zu verpflichten, den zu erreichen die Gesellschaft und in der Folge die menschliche Natur selbst fähig, jedoch noch so weit entfernt scheine. Die Generation Claußnitzer hatte allerdings damit zu tun, erst einmal den tiefsten Grad der Verfinsterung hinter sich zu lassen. Mit der Parole „Wirken für die Stärkung eines geistigen Gewissens“ hatte der jugendliche Schwärmer sein Panier verziert. Als nach Jahren die Albertina in Wien einlud, über die große Dürer-Ausstellung (2003) zu schreiben, lässt er im Blick auf die Rezeptionsgeschichte auch einstiges Gefasel von „wahrhaft nordischer Größe“ und dergleichen bewusst nicht unerwähnt. Glaubte man das alles nicht längst für immer dem Vergessen überantwortet?
Dass sich nach dem Krieg ein Wandel vom Melancholischen zum Heiteren andeutete, ist sehr schön bei Hans Jüchser (1894–1977) erfasst, der sich entfaltet „mit stillem Ernst, voller Weisheit und in einer unverwechselbaren Eigenart zu einem Maler, der fern des Artistischen und Geschmäcklerischen in gleichnishaften Darstellungen Ausschau nach einer Sinndeutung des Lebens hält.“ In diesem Duktus ist aus dem Dresdener Umfeld eine breite Phalanx zugeordnet: Wilhelm Rudolph (1889–1982), Theodor Rosenhauer (1901–1996), Hanns Georgi (1901–1989), Werner Wittig (1930–2013), Claus Weidensdorfer (1931–2020), Fred Walther (geb. 1933), Herta Günther (1934–2018), Petra Kasten (geb. 1955) und andere. Sich frei machen von akademisch Herkömmlichem! Welche Einflüsse sind von Rodin, Munch, Chagall, Picasso, Masereel, Kokoschka, Klimt, Schiele, Eisler nachweisbar? Und wo gelangt Neues in den Blick? – die Avantgarde auf Russisch (Malewitsch), Ungarisch (Derkovits, Moholy-Nagy, Vajda), Slowakisch (Kubišta, Kupka), die naive Kunst, vermittelt durch den Belgrader Weltbürger und einstigen Sekretär des Bundes proletarisch revolutionärer Schriftsteller Oto Bihalji-Merin.
Mit Gert Claußnitzers „Gesichter und Zeiten“ liegt ein (im Sinne Michail Alpatows) reich bebildertes Kunsterlebnisbuch vor – einfach zum Blättern, zum Schnuppern, voller Überraschungen, ohne didaktische Ambitionen, das reine Vergnügen für alle Kunstbeflissenen und die, die es werden wollen.
Gert Claußnitzer: Gesichter und Zeiten. Autobiografische Betrachtungen eines Lektors aus dem Verlag der Kunst Dresden. Herausgegeben von Thomas Walther. Verlag der Kunst Dresden Ingwert Paulsen jr., Husum 2021, 224 Seiten, 34,95 Euro.
Schlagwörter: Autobiografie, Gert Claußnitzer, Horst Möller, Kunstgeschichte, Künstlerporträts