Im Blättchen 6/2021 berichtet Klaus Joachim Herrmann aus eigener Anschauung der damaligen wie heutigen Verhältnisse darüber, dass es in absehbarer Zeit kein Denkmal für Michail Gorbatschow geben wird. Man wüsste wohl auch kaum, in welcher Pose man den Jubilar darstellen sollte, und viele seiner Landsleute würden vermutlich allenfalls für ein Monument der Schande plädieren. Der Autor schreibt Gorbatschow die „Allmacht als Generalsekretär und Präsident“ zu; hier hingegen sollen die Grenzen dieser Macht aufgezeigt werden.
Frühere Generalsekretäre hatten großen Wert darauf gelegt, sich eine stabile Machtbasis zu verschaffen. Stalin war jahrelang auf wechselnde Bündnispartner angewiesen, bis er eine gefügige Mehrheit im Politbüro hinter sich brachte. Seine Macht konsolidierte er schließlich erst durch den innerparteilichen Terror, und gegen Ende seines Lebens griff er wieder auf dieses Mittel zurück.
Unter Stalins Erben setzte sich Chruschtschow durch, der sich auf Parteitagen hinter verschlossenen Türen von dessen Methoden distanzierte, aber zu tief in die Geschehnisse verwickelt war, um grundlegende Reformen einzuleiten. Immerhin gab es keine Masseninhaftierungen mehr. Chruschtschows Machtposition war keineswegs sicher. Schon 1957 versuchte eine Mehrheit des Politbüros ihn abzusetzen, was er durch einen Appell an das Zentralkomitee noch verhindern konnte. 1964 schließlich unterlag er der letzten Generation von Politikern, die unter Stalin emporgekommen war; diese klammerte sich, wie die weiteren Ereignisse zeigten, buchstäblich bis zum Tode an die Macht.
Gorbatschows Aufstieg vollzog sich in dem entstehenden Machtvakuum, da in diesem Zeitraum außer drei Generalsekretären – Breschnew, Andropow, Tschernenko – auch noch andere Mitglieder des Politbüros starben. Er verdankte ihn nicht einer weitsichtigen Kaderplanung, sondern Erfolgen im kritischen Bereich der Landwirtschaft. Seine Qualifikation für internationale Verhandlungen beruhte auf einem erfolgreichen Rechtsstudium in Moskau. Und Konkurrenten um die höchste Führungsposition der Partei waren in seiner Altersgruppe kaum vorhanden. Unterstützer waren allerdings ebenfalls rar; neuen Mitgliedern des Politbüros wurden eher traditionelle Positionen nachgesagt. Kandidat für dieses Gremium war Boris Jelzin, der die bestehenden Zustände vehement kritisierte und bald wieder abgelöst wurde.
Gorbatschows Vorgänger hatten ihre Macht auf das Sekretariat des Zentralkomitees gestützt, das zu allen wichtigen Sachfragen detaillierte Vorlagen ausarbeitete und besonders die Personalplanung im Griff hatte; Gorbatschow leitete dieses wichtige Gremium nicht selbst, sondern überließ dies einem Stellvertreter.
Wie viel – oder wie wenig – Rückhalt Gorbatschow tatsächlich in der Parteiorganisation hatte, lässt sich vielleicht daraus erschließen, dass er nicht wie seine drei Vorgänger zugleich auch zum nominellen Staatsoberhaupt befördert wurde. Diese Position erlangte er erst durch eine tiefgreifende Änderung der Verfassung, die man daher wiederum als Versuch interpretieren kann, sich eine neue Machtbasis nunmehr auf staatlicher Ebene zu verschaffen.
Das führte zu unerwarteten Nebenwirkungen. An vielen Orten hatten die Wähler jetzt tatsächlich die Auswahl zwischen mehreren Kandidaten, was oft mit Niederlagen für die offiziellen Parteivertreter endete. Gorbatschow, der zugleich als Parlamentspräsident fungierte, stand also einer echten Opposition gegenüber, mit der er sich Wortgefechte lieferte, während die Mehrheit seinem Kurs nur widerwillig folgte.
Auf der Ebene der einzelnen Republiken führte die Demokratisierung dazu, dass viele von ihnen sich anschickten, ihr verbrieftes Recht auf Selbständigkeit tatsächlich wahrzunehmen. Das Militär reagierte mit Drohgebärden und vielerorts mit Ausschreitungen, die die Sezessionsbestrebungen nicht wirksam unterdrücken konnten, sondern eher beflügelten.
Der Demokratisierungsprozess verhalf auch Jelzin zu einem Comeback; er kandidierte als Präsident der größten Teilrepublik Russland und wurde tatsächlich gewählt. Auch Russland begann nun eigene Ziele zu verfolgen. Gorbatschows engste Mitarbeiter – Vizepräsident, Premierminister, Innenminister, KGB-Chef – bildeten nun ein „Notstandskomitee“, setzten ihn fest und gingen auch in Moskau militärisch vor; der Putsch fand wenig Unterstützung und scheiterte am Widerstand der Bevölkerung.
Vielleicht wird Gorbatschows historische Rolle klarer, wenn man ihn – und seine Widersacher auf beiden Seiten – als Exponenten einer neuen herrschenden Klasse sieht. Der russische Historiker und Philosoph Michael Voslensky bezeichnete diese Klasse als „Nomenklatura“. Das meinte zunächst ein Verzeichnis von einflussreichen Positionen, die nach bestimmten Regeln besetzt wurden, lässt sich aber auf die Gesamtheit derjenigen Personen übertragen, die solche Positionen innehatten. Und diese Klasse geriet – nach großen Erfolgen bei der Industrialisierung und Verteidigung des Landes – immer mehr in eine Stagnation, die durch die Überalterung des Politbüros deutlich wurde. Außenpolitisch erwies sich der Krieg in Afghanistan zunehmend als Ballast, und es drohte eine neue Runde im Wettrüsten. Probleme der Wirtschaft waren die wachsende Auslandsverschuldung und die von Herrmann anschaulich beschriebenen Versorgungsengpässe, von denen Teile der Nomenklatura allerdings auch profitierten. In meinem Buch „Die Diktatur der Sekretäre“, das 2006 erschien, beschrieb ich die Situation so:
„Die Interessen der Nomenklatura waren also zwiespältig. Einerseits gefährdete jede Reform ihre Machtstellung, war also so lange wie möglich zu vermeiden; ein kranker und schwacher Generalsekretär stellte dies für den Augenblick sicher und war damit sichtbarer Ausdruck der Beharrungskräfte des politischen und wirtschaftlichen Systems. Andererseits war ein kranker und schwacher Generalsekretär – oder gleich eine ganze Dynastie solcher Gestalten – ein ebenso sichtbarer Ausdruck einer chronischen Systemkrise; eine langfristige politische Perspektive bot sich auf diese Weise nicht. Reformen konnten also nur verzögert, nicht aber auf Dauer vermieden werden. Dann aber bedeuteten sie für die Nomenklatura nicht nur Gefahren, sondern auch die Chance, ihre Herrschaft auf eine neue, stabilere Basis zu stellen: die des Privateigentums.“
Ziel der Verschwörer war vermutlich, den Prozess der Demokratisierung zu beenden. Das erreichten sie – aber nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Jelzin und seine Kollegen in anderen Republiken übernahmen nun den Befehl über ihren jeweiligen Teil der Streitkräfte; die machtlos gewordene Sowjetunion lösten sie kurzerhand auf. Jelzin und seine Hintermänner warfen sich auf die Privatisierung, wobei sie auch Mittel wie Betrug und Raub nicht scheuten. Bald setzte Jelzin seinerseits Truppen gegen das russische Parlament ein; diesmal erfolgreich. Die politische Demokratisierung hatte somit nur als Vehikel dazu gedient, eine extreme wirtschaftliche Oligarchie zu schaffen, die bald auch den politischen Bereich dominierte. Gorbatschow aber steht vor der Geschichte als Zauberlehrling da, der die Geister der Demokratisierung und der Marktwirtschaft, die er gerufen hatte, nicht mehr los wurde.
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Boris Jelzin, KPdSU, Michail Gorbatoschow, Sowjetunion