In der Nummer 1/2017 des Blättchens war darüber zu berichten, dass Jurij Koch ein Buch veröffentlicht hatte, das er ausdrücklich nicht „Tagebuch“, sondern „Erinnerungen“ nannte. Der Unterschied bestünde darin, dass Erinnerungen nicht unbedingt genau mit dem übereinstimmen müssten, was an diesem oder jenem Tag wirklich genau so und nicht anders geschehen sei, ein Tagebuch dagegen hält fest, was an einem bestimmten Tag war. Oder noch etwas genauer gesagt, ein Tagebuch beschäftigt sich damit, welches Ereignis oder welcher Gedanke zum Zeitpunkt des Geschehens als wichtig angesehen wurde, Erinnerungen damit, was im Nachhinein immer noch als wichtig und des Berichtens wert erscheinen mag. Erinnerungen an Ereignisse sind ohne Vergessen nicht denkbar und müssen nicht frei von nachträglichen Bewertungen sein. Der Unterschied also zwischen Erinnerungen und Tagebuch, das leuchtet ein, ist von Bedeutung. Nicht zuletzt zeigt sich dieser in Stil und Form. Nun also ein Tagebuch von Jurij Koch unter dem vielsagenden Titel „Gruben-Rand-Notizen“.
Für Liebhaber der meisterlichen Erzählkunst des Autors ist der Titel nicht überraschend. Die Idee, dass sich in der „Randerscheinung“, dem kleinen sorbischen Völkchen, Weltgeschehen und Weltprobleme in trefflicher Weise sinnlich erlebbar widerspiegeln und die Gruben der Bergbauindustrie nicht ewig als Symbole für Fortschritt gelten können und nicht nur eine Bedrohung für diese Minderheit darstellen, zieht sich wie ein roter Faden durch Romane, Erzählungen, Erinnerungen, Reden, Rundfunkbeiträge, Filme und Notizen von Jurij Koch. So ist es nicht verwunderlich, dass in seinem Tagebuch Selbstreflexion und Kritik der gesellschaftlichen Zustände und ihrer Ursachen zusammengehen. Die Welt anschauend bleibt Jurij Koch dem treu, was er bereits 1987 in seiner Rede auf dem 10. Schriftstellerkongress der DDR geradezu programmatisch ausgeführt hatte. Marx zitierend beharrte er bereits damals darauf, dass die Aufgabe einer Nation, ja selbst aller gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, darin bestehen müsse, die Erde den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen. Und Koch führte den Gedanken weiter aus, indem er bemerkte, dass er in jenem November des Jahres 1987 „die feierliche Abfahrt des ersten Kohlezuges im neuen Tagebau nicht als Erfolg“ begreifen konnte. Er „sah das absurde Bild von jubelnden Menschen auf dem Ast, an dem sie sägten“. Durch einen kleinen Trick ist diese widerborstige Rede ins Tagebuch unter dem Datum 19. September 1996, seinem 60. Geburtstag, aufgenommen. Mit anderen früheren Texten verfährt Jurij Koch ebenso und hat damit eine Reihe wirklich interessanter zeithistorischer Dokumente ins Tagebuch geholt, darunter auch einige, die heute nur noch schwer in Buchhandlungen zu finden sind.
Der erste Eintrag ins Tagebuch ist vom 28. April 1996. Es geht zunächst um ein läppisches Problem, nämlich darum, wie das Parken fremder Autos vor dem Tor der Familie Koch zu verhindern sei. Selbst eingesammelte große Feldsteine – so hieß die Lösung früher. Anders in den 1990er Jahren – man konnte die Steinzeitfindlinge aus dem Tagebau Jänschwalde für 29 Mark pro Tonne bei der Bergbauaktiengesellschaft kaufen. Jurij Koch veranlasst das zu folgender Tagebuchnotiz: „Wer hat Gesetze gemacht, nach denen ein Konzern mit eiszeitlichen Steinen Geschäfte machen darf? (…) Wir haben also ein Stückchen Schöpfung gekauft, die allen gehört, somit auch mir. Der Konzern verkaufte uns also unser Eigentum.“
Wer sich an die Zeit in der Lausitz kurz nach der Wende erinnert und Jurij Koch kennt, der ahnt, dass in den folgenden Tagebucheinträgen Horno zum beherrschenden Thema seiner Überlegungen wird. Über Horno ist nach dem Anklicken im Bruchteil einer Sekunde auf dem Bildschirm des Computers zu lesen: „Horno, niedersorbisch Rogow, war ein Dorf im Landkreis Spree-Neiße in der Niederlausitz im Südosten des Landes Brandenburg. Es lag im Gebiet des Braunkohletagebaus Jänschwalde und musste 2004 dem Tagebau weichen. Die meisten Einwohner siedelten nach Neu-Horno auf dem Gebiet der Stadt Forst (Lausitz) um.“
Ebenfalls am 28. April 1996 schreibt Jurij Koch in sein soeben begonnenes Tagebuch: „Nachmittags endlich Victor Klemperers ‚Tagebücher 1933 – 1941‘ vorgenommen.“ Sein Interesse wird zusätzlich angefacht, weil Klemperer unter dem Datum 22. März 1933 schreibt, dass „die brave Wendin Käthe“ bei Blumenfelds in Dresden als Dienstmädchen gekündigt habe, um eine „sichere Stelle“ anzunehmen. Koch weiß, dass Klemperer später noch intensivere Begegnungen mit Sorbinnen haben wird und teilt seinen Entschluss mit: „Ich werde auch ein Tagebuch schreiben.“ Und dann kommt der Satz, der nicht allen gefallen wird, weil sie die Judenverfolgung nicht mit der durch ein fossiles Gesellschaftsmodell verursachten Gefahr der ökologischen Krise und des Verschwindens der Sorben und ihrer Kultur verglichen haben wollen. Doch Jurij Koch schreibt: „Und es ist mir bei dem Beschluss, als erlebte ich ähnliche Zeiten wie Klemperer, ein bisschen feiner strukturiert der Wahnsinn, sodass er nicht auf Anhieb als Gefahr wahrgenommen wird.“ Doch was bei einigen seiner Altersgenossen als starrsinniges Beharren mit einer Prise Nostalgie daherkommt, ist bei Jurij Koch dann doch mehr ein Appell, selber nachzudenken. Und er bleibt der Mahner, wenn die Fortschrittsgläubigen mit Großprojekten kommen. So wird er sicher Recht behalten mit der Annahme, dass „die Seenbildung in der Lausitz eine Illusion bleiben wird, weil das benötigte Wasser […] nicht aufzutreiben sein wird“ (30. Juni 2003).
Auch so manch auf den ersten Blick bloß witziger Satz, wie zum Beispiel „In der DDR wurde ehrlicher gelogen“, erfährt beim nochmaligen Lesen eine analytische Dimension. Gut, bereits das damalige Zentralorgan Neues Deutschland bescheinigte Jurij Koch am 26. November 1987 in seinem Bericht über die bereits erwähnte Rede ein dialektisches Herangehen. Lediglich eine, dazu noch eine „verordnete“, Perspektive der Betrachtung war seine Sache nie. Da blieb sich Koch treu. So notiert er am 23. Juni 1996 ein paar kritische Bemerkungen zu Michael Peschkes Bühnenfassung von Strittmatters „Ole Bienkopp“ in der Inszenierung von Christoph Schroth am Cottbuser Theater. Genüsslich, so scheint es, fügt Koch dann noch eine Merkwürdigkeit hinzu: Als im Theater ein Originaleinspiel der Rede von Walter Ulbricht auf der 2. Parteikonferenz der SED 1952 gebracht wird, in der er den Beschluss verkündet, in der DDR den Sozialismus aufzubauen, applaudiert das Publikum. Dennoch, bei einigen aktuellen Fragen der Weltpolitik ist die Unsicherheit Kochs zu bemerken. Er will sie gar nicht kaschieren. Zu kompliziert und scheinbar völlig aus den bisherigen Erklärmustern geraten sind die Mechanismen der politischen Macht. Und der Widerstand dagegen schwächelt vor sich hin. „Was geht hier vor sich?“ Jurij Koch schließt auch diese beobachtete Merkwürdigkeit mit einer Frage und nicht mit einem Punkt ab, was nur bedeuten kann, noch ist nichts verloren. Ohne Schmerzen ist anteilnehmende Beobachtung nicht zu haben. Und so kommt Koch am 6. April 2002 von quälenden Zahnschmerzen zur Frage, wie denn die Politik Israels gegenüber den Palästinensern zu bewerten sei, ohne in den Verdacht des Antisemitismus zu geraten.
Horno hat den Kampf verloren. Jurij Koch jedoch notiert am 1. Dezember 2006: „Ich wünsche Horno, der mutigsten europäischen Widerständlergemeinschaft, an deren Seite ich mich befand und befinde, stetigen Zuwachs an Stolz, denn sie hat der Welt nützliche Skrupel und Scham beigebracht.“ Bei der Buchvorstellung am 7. Oktober 2020 im überfüllten Saal des Dorfkrugs in Neu-Horno macht diese Botschaft Mut. Nach diesem Eintrag folgen im Buch Schwarzweißfotos vom Abriss Hornos und der Umsiedlung nach Neu-Horno. Damit es dann doch nicht zum Schluss zu pathetisch wird, schließt Jurij Koch sein Tagebuch mit einem Nachtrag vom 31. Oktober 2009. Wieder einmal ist Nachwuchs in der Familie und damit Hoffnung auf Kommendes zu verkünden: „Willi ist da! […] Willi trinkt und schläft und wächst und kackt sich in die Welt …“
Jurij Koch: Gruben-Rand-Notizen. Ein Tagebuch, Domowina-Verlag, Bautzen 2020, 192 Seiten, 16,90 Euro.
Schlagwörter: Braunkohletagebau, Gerd-Rüdiger Hoffmann, Horno, Jurij Koch, Victor Klemperer