von Gerd-Rüdiger Hoffmann
Jurij Koch, geboren am 15. September 1936, hat nach „Das Feuer im Spiegel“ (2012) in Obersorbisch und in Deutsch noch ein Buch geschrieben, das wieder kein Tagebuch ist, sondern von ihm ausdrücklich „Erinnerungen“ genannt wird. Der Unterschied ist wichtig, denn so erfahren wir nicht unbedingt, was an diesem oder jenem Tag im Jahre 1949 zum Beispiel von ihm notiert wurde und welche Meinung er zu dieser oder jener Begebenheit genau an diesem Tag hatte, sondern wir bekommen damit zu tun, woran sich Jurij Koch erinnert und wie die Sache nach seiner Meinung heute zu bewerten sei. Wir erfahren auch von seinem Wundern darüber, wie er so manchen „Mischmasch noch mit reichlich sechzigjährigem Abstand zum erinnerten Vorfall“ wahrnimmt. Jedoch schreibt er auch: „Wobei ich mir nicht sicher bin, dass wirklich alles so geschehen ist. Was die Fantasie vor und während dieser Schriftlegung hinzugefügt hat. Macht nichts. Auf jeden Fall könnte es so gewesen sein.“ An einige Einzelheiten, für die sich Historiker bestimmt interessiert hätten, erinnert er sich nicht, wundert sich ebenfalls darüber und findet es nicht schlimm. Diese Sicht und die Kommentare aus der Jetztzeit zu früheren Erlebnissen und Taten, die ganz und gar nicht aufgeschrieben sind, um sich vor heute herrschendem Zeitgeist zu rechtfertigen oder die jungen Leute zu belehren, machen das Lesen zu einem besonderen Erlebnis. Witz und Klugheit treffen sich. Wahrhaftigkeit findet hier statt. Das muss über Jurij Koch gesagt werden, der sich immer auch als Journalist versteht.
Wenn er merkwürdige Begebenheiten, also Merkwürdigkeiten, aufzählt, dann sind das Geschichten zur Geschichte der Lausitz und seines Lebens, in denen Heimat und Welt vorkommen und wie es um sie steht nach seiner Meinung. Zum Beispiel wie er nach dem Krieg als Entwicklungshilfe für sorbische Kinder „notreife Bildung“ im tschechischen Varnsdorf erhielt, die Zeit im sorbischen Gymnasium Bautzen und etwas später am niedersorbischen Gymnasium in Cottbus, nachdem das Einsammeln von Mobiliar und Kindern in den umliegenden wendischen Dörfern erfolgreich war.
Um die erste Liebe und so geht es natürlich auch. Politische Umstände im geteilten Deutschland gehen hier dazwischen: „Greta“, „Abgehauen! Rüber!“.
Sodann das Erinnern an „Brandenburgs SED-Landesvorsteher Friedrich Ebert“, der einer sorbischen Abordnung „patzig zu verstehen gab, dass die eingesessene brandenburgische Arbeiterklasse nicht gewillt sei, im Land eine Treibhauspflanze aufzuziehen“. Auch die spätere „Gesinnungsumkehr“ in dieser Frage kommt zur Sprache. Freilich, um das kleine Völkchen der Sorben, das in der Niederlausitz gern Wenden genannt werden will, geht es immer wieder. Jurij Koch will nicht darauf reduziert werden, obwohl er weiß, dass Intellektuelle dieser kleinen Minderheit das Privileg haben, sorbische Heimat und Welt in einer einmaligen Art zusammenzubringen. Dagegen stemmt sich die Arroganz der Deutschen, die fest davon überzeugt sind, dass einzig sie den Fortschritt verkörpern. Denn wenn auch kaum geglaubt wurde, was auf Plakaten geschrieben stand, mit dem Spruch „Ich bin Bergmann, wer ist mehr“ (ohne Fragezeichen) war es anders. Das war Volksglauben und ließ keine Kritik am Wegbaggern der sorbischen Dörfer im Namen des Fortschritts zu. Verständlich, dass sich auch Sorben auf die Seite der vermeintlichen Sieger schlugen und ihre Sprache und Kultur verleugneten. Anders Jurij Koch, bereits als Schüler: „Meine auf dem tschechischen Gymnasium erworbenen Fähigkeiten, mit Buchstaben in drei, vier Sprachen schnell, in der eigenen wieselig flink, umzugehen, und das angesammelte Häufchen Wissen, welche Ordnungen die Welt im Inneren zusammenhalten, haben mich plötzlich zu einem Klugscheißer gemacht, der im Mittelpunkt steht. Und daran durchaus Gefallen findet.“ Was nicht ohne Risiko ist, wie er sich ebenfalls erinnert.
Oder die Merkwürdigkeit wie Jurij Koch als junger Kerl gemeinsam mit dem Striesower Bürgermeister und dem Gemeindekalfaktor den „kaisertreuen Vogel“ vom Sockel des Kriegerdenkmals holt. Heute freilich, so bemerkt Jurij Koch, sitzt das Vieh wieder „auf dem gereinigten Denkmalsockel mit neuem Nagel im Arsch […] Und zu den Namen der Gefallenen des Ersten Weltkriegs sind die des Zweiten hinzugemeißelt. Wobei darauf hingewiesen sei, dass für weitere auf den Steinflächen des Denkmals kein Platz mehr vorhanden ist.“
Schließlich Jurij Kochs Rede auf dem Schriftstellerkongress im November 1987. Der Autor dieser Bemerkungen war zu jener Zeit am Afrikabereich der Karl-Marx-Universität Leipzig mit Vorlesungen über Frantz Fanon beschäftigt, der uns Europäern mit unserem Begriff von Fortschritt den Spiegel vorhielt. „Europa ist im Eimer.“ Sartre gibt Fanon Recht mit seiner vernichtenden Kritik.
„Der Engel der Geschichte“ – nicht erst in den späten 1980er Jahren begannen wir Walter Benjamin zu lesen, jedoch bekam zu dieser Zeit so manche seiner Ideen mehr Kraft im Reden, Lernen und Lehren an der Karl-Marx-Universität. Ernst Bloch schwebte ohnehin durch alle Seminarräume der Philosophie. Dafür sorgte allein die Anwesenheit des Philosophiehistorikers Helmut Seidel, der den Namen des aus Leipzig von ideologischen Kleingeistern vertriebenen Bloch zwar kaum erwähnte und doch irgendwie eben diesen anderen Marxismus, den schöngeistigen und lebensphilosophischen über uns brachte. Es war mehr ein Gefühl, dass Benjamin und Bloch und Rosa Luxemburg und auch ein etwas anders als im Grundlagenstudium gelesener Karl Marx uns viel zur Lage im Lande und in den Lüften zu sagen hatten. Und dann Jurij Koch auf dem Schriftstellerkongress der DDR, mutiger oder vielleicht auch bloß naiver als sein sorbischer Kollege Jurij Brězan, jedenfalls anders als er: „Wider die anerzogene eigene Fortschrittsgläubigkeit frage ich nach dem Verhältnis von Gewinn und Verlust. Wie viel verlieren wir, wenn wir so viel gewinnen? Mit jeder Kalorie Wärme, die wir der Erde entnehmen, um sie zu verschwenden, wird es kälter um uns.“ In Funktionärsstuben und im Braunkohlekombinat soll es daraufhin die gehässige Bemerkung gegeben haben, die auch Jurij Koch zu Ohren kommt, „dass es angebracht wäre, dem Koch ein Windrad aufs Dach zu setzen. Soll er sehen, wie er zu Wärme und Licht kommt.“ Im Spiegel, der im Zusammenhang mit der Erarbeitung einer Chronologie „Subsaharisches Afrika“ auszuwerten ist, erfahre ich zuerst von der Koch-Rede, zitiere ihn, nein interpretiere mehr, weil ich ja die ganze Rede nicht kenne, und werde zu einem Gespräch geladen. Keine Drohung oder Kritik beim Parteisekretär (oder war es die Abteilungsleiterin?), sondern fast Respekt und Anerkennung. Zum Schluss der Unterredung jedoch noch dieses obligatorische „Muss-das-denn-sein“. Beim Lesen des Spiegel-Artikels ahne ich es, Jurij Koch bestätigt es in seinem Buch, dass Hermann Kant es war, der ihn damals ermunterte, von seiner Meinung nicht abzulassen, nicht sein Stellvertreter im Schriftstellerverband Brězan.
Das Buch schließt mit Erinnerungen an den Spätherbst 1989, „als es im Gebälk der Republik knistert“, Jurij Koch in einer der vielen Versammlungen gebeten ist, „den Moderator zu spielen“ und jemand nach Abrechnung „ohne zu fackeln“ ruft. Jurij Koch, mit über 50 noch immer nicht darauf bedacht, mehrheitliche Zustimmung zu erheischen: „Ich unterbreche den Schreihals. Mir scheine, dass in diesen Zeiten des Aufstands der Kleinbürger diejenigen die größte Klappe haben, die sie vor Wochen noch fest verschlossen hielten.“
Es stimmt schon, das Buch handelt von „aus heutiger Sicht kauzig anmutenden Begebenheiten, die sich zu einem Bild der Zeit formieren“.
Jurij Koch: Windrad auf dem Dach. Erinnerungen, Domowina-Verlag, Bautzen 2016, 133 Seiten, 14,90 Euro. Jurij Koch: Wětrnik na třěše. Dopomnjeća na młode a zrałe lěta, Ludowe nakładnistwo Domowina, Budyšin 2016, 116 Seiten, 12,90 Euro.
Schlagwörter: Gerd-Rüdiger Hoffmann, Jurij Koch, Schriftstellerverband, Sorben