24. Jahrgang | Nummer 9 | 26. April 2021

Lula, Bolsonaro und Pandemie – Brasilien in der Krise

von Achim Wahl

In der ‚göttlichen Komödie‘ hat sich Brasilien in den zehnten Kreis der Hölle verwandelt. Der schlechteste Platz der Welt ist gegenwärtig – hier und jetzt. Zehn Prozent der Toten der Welt sind Brasilianer“, so charakterisiert die Landlosenbewegung (MST) die Lage in Brasilien. Die Pandemie ist außer Kontrolle und das Land demoralisiert. Mitte April starben in 24 Stunden immer über 3000 bis 4000 Menschen; insgesamt waren es da bereits mehr als 340.000.

Allein im Jahr 2020 verloren 3,8 Millionen Jugendliche, Frauen und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen ihren Arbeitsplatz. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 25 Prozent. Die brasilianische Wirtschaft beendete das Jahr 2020 mit minus 4,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Einige tausend Unternehmen wurden geschlossen. Zehn Millionen Arbeitern und Angestellten wurde der Arbeitsvertrag vorerst suspendiert. Im Jahr 2020 reduzierte sich der Anteil der Werktätigen mit gültigem Arbeitsvertrag um 11,2 Prozent (3,8 Millionen). Hinzu kommt die Krise des Gesundheitswesens, das nicht in der Lage ist, den Menschen ausreichend Hilfe zu gewähren.

Angesichts dieser Situation bleibt die Politik der Regierung Bolsonaros chaotisch. Bolsonaro selbst lehnt Maßnahmen zur Isolierung ab. Das Virus bezeichnet er als „kleines Grippchen“. Anstrengungen für eine organisierte Impfstrategie fehlen. Es existiert ein offener Konflikt zwischen Bolsonaro und Gouverneuren, die in einzelnen Bundesstaaten ihre eigene Anti-Pandemie-Politik betreiben. Bolsonaros Zustimmungswerte nehmen ab.

Als Verteidiger des Militärputsches von 1964 ließ er diesen am 31. März „feierlich“ begehen. Seine Regierung ist eine Regierung der Militärs, besser des Militärs. Gegenwärtig sind 6000 aktive und Militärs der Reserve in Schlüsselpositionen des Regierungsapparates tätig. Der Vizepräsident ist ein General der Reserve. Hohe Militärs sind Verteidigungs-, Wissenschafts-, Bergbau- und Infrastrukturminister, Minister des Präsidentenbüros, der Inneren Sicherheit, des Regierungssekretariats und der Obersten Bundeskontrollbehörde. Ein Admiral ist Chef der Zulassungsbehörde für Vakzine. Das Scheitern dieser Regierung der Militärs ist, besonders im Gesundheitssektor, angesichts der entstandenen Lage offensichtlich.

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Am 4. März 2016 war Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva dem Richter des zweiten Amtsgerichtes, Sergio Moro, in Curitiba (Hauptstadt des Bundesstaates Paraná) zwangsweise vorgeführt worden. Er wurde der Korruption und Vorteilsnahme im Amt beschuldigt. Moro erwarb seine Spezialisierung „Korruptionsbekämpfung“ 1998 in einem Programm an der Harvard Law School, das vom State Department der USA finanziert wurde. Als die Operation „Lava Jato“, die seit März 2014 Geldwäsche, Untreue, und Korruption in Milliardenhöhe im halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras untersuchte, begann, wurde das zweite Amtsgericht in Curitiba zum auserwählten Spezialgericht in Sachen Korruptionsbekämpfung.

Mit Beginn der Operation arbeiteten brasilianische Gerichte, Staatsanwaltschaften und Bundespolizei mit Organen der US-Administration (unter anderem mit dem FBI) zusammen. Es entstand eine Allianz aus Staatsanwälten, Bundespolizei und Richter Moro, die sich vor allem gegen die Arbeiterpartei (PT) und Ex-Präsident Lula richtete. Das Ziel bestand darin, eine Kandidatur Lulas zur Präsidentenwahl 2018 zu verhindern.

Am 12. 7.2017 wurde Lula durch Richter Moro zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Nach Bekanntwerden der Verurteilung erklärte die Bundespolizei die Operation „Lava Jato“ für beendet. Damit hatte sie ihren „Auftrag“, eine Kandidatur Lulas zu verhindern, erfüllt.

Das Portal The Intercept Brasil veröffentlichte im Juli 2019 Material, das „Abstimmungen“ zwischen Moro und dem leitenden Staatsanwalt der Operation in Sachen Lula offenlegte: illegales Abhören der Telefone der Anwälte Lulas, Absprachen Moros mit dem Innenministerium.

Nach mehr als 500 Tagen Gefängnishaft wurde Lula im November 2019 entlassen.

Richter Sergio Moro avancierte im November 2018 zum Justizminister Brasiliens. Zunehmende Differenzen zwischen ihm und Bolsonaro führten im April 2020 zu Moros Demission. Schon im November 2020 wurde er von der US-Kanzlei Albarez & Marsal als Sozius übernommen, zu deren Klienten einige der beschuldigten Bauunternehmen in der Operation „Lava Jato“ gehörten.

Am 8. März 2021 überraschte Edson Fachin, Richter des Obersten Bundesgerichtshofes Brasiliens (STF), mit einer Einzelentscheidung, mit der er alle Urteile des Amtsgerichtes Curitiba gegen Ex-Präsident Lula annullierte. Er begründete seine Entscheidung mit der Nichtzuständigkeit des Amtsgerichtes und entschied, dass die Causa Lula in die Kompetenz des Bundesgerichtshofes fällt.

Die Entscheidung Fachins löste unterschiedliche Reaktionen aus. Rechtsexperten meinten, dass Fachin weniger Lula „befreien“, als vielmehr Moro schützen wollte. Aus den Reihen der Militärs verlautete, dass damit eine institutionelle Krise ausgelöst werde, die eine Reaktion des Militärs verlangen würde. Auch die Bundesstaatsanwaltschaft forderte sofort die Rücknahme der Einzelentscheidung.

Die zweite Kammer des Bundesgerichtshofes setzte nun mit einer Entscheidung von drei zu zwei Stimmen am 23. März 2021 einen Schlusspunkt: Moro wurde als befangen erklärt und diese Vorgänge als der „größte Justizskandal in der brasilianischen Geschichte“ bezeichnet. Damit ist Lula rehabilitiert und wieder im Besitz aller Rechte als brasilianischer Bürger. Er kann 2022 als Präsidentschaftskandidat antreten.

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Offenbar suchen Teile der Eliten Brasiliens, repräsentiert durch das „große Zentrum“ („centrao“) konservativer Parteien, und bestimmte Fraktionen der Bourgeoisie, einen Ausweg aus der multiplen Krise. In einem Brief von Unternehmern, Bankern, Ex-Ministern, Ökonomen und Akademikern an die Regierung schreiben sie: „Es ist nicht glaubwürdig, dass in einer außer Kontrolle geratenen Pandemie eine Wiederbelebung der Wirtschaft erwartet werden kann.“ Vernünftig sei es, Reformen durchzuführen, um das Vertrauen in den Markt wiederherzustellen. Das legt die Vermutung nahe, dass diese Eliten sich auf ein politisches Comeback Lulas einstellen und einen Kompromiss suchen. Vieles spricht dafür, dass Lula, sollte er kandidieren, die Präsidentenwahl 2022 gewinnen kann. Die Folha de São Paulo prognostiziert: Lula werde den Armen helfen, aber gleichzeitig die Realisierung von Großprojekten anstreben, was in Zeiten sich erholender Rohstoffpreise der Wirtschaft neue Impulse verleihen könne.

Die Regierung Bolsonaro findet in dieser Krisensituation keine Lösung, außer dass der Wirtschaftsminister Paulo Guedes, ein „Chicago Boy“, seine Politik des Ultraliberalismus forciert (weitgehende Privatisierung von Petrobras). Brasilien hingegen ist nach Angaben des IWF im Ranking der weltgrößten Ökonomien 2020 auf Platz zwölf zurückgefallen

Kurz nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofes zu Lula reagierte Bolsonaro am 30. März 2021 mit der Umbildung seiner Regierung. Er entließ Außenminister Araújo, Verteidigungsminister Fernando Azevedo e Silva, die Chefs des Heeres, der Marine und der Luftwaffe sowie den Gesundheits- und den Justizminister. Die Entlassung Araújos, der für eine konfrontative Außenpolitik nach dem Vorbild der Trump-Administration stand, wurde erforderlich, um die Beziehungen zum neuen US-Präsidenten Biden zu verbessern. Alles ein durchsichtiges Manöver, das seine Position nicht sichtlich verbessert, ihm aber letztlich die weitere Unterstützung der Militärs und des „großen Zentrums“ sichert. Jetzt richtet er alles darauf aus, im kommenden Wahljahr als Präsidentschaftskandidat anzutreten.

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Die brasilianische Gesellschaft ist insgesamt stark fragmentiert. Die linken Kräfte haben es schwer, verlorene Positionen zurückzugewinnen. Die Pandemie verhindert bedeutende politische Mobilisierungen. Nicht erst seit Beginn der Pandemie befindet sich die brasilianische Linke in der politischen Defensive, wie die Verluste in den Kommunalwahlen Ende 2020 zeigten.

Es sind allerdings nicht nur die Pandemie und die ausbleibende Mobilisierung der Straße, die diese Situation ausmachen. Mehrheitlich wird unter den Linkskräften die Meinung vertreten, dass das Bolsonaro-Regime durch eine breite Front der Linkskräfte mit Zentrumsparteien und Konservativen zu überwinden ist. Die Forderung nach einem „Fora Bolsonaro já“ („Weg mit Bolsonaro jetzt“) hat jedoch nicht mehr die erforderliche Unterstützung, das heißt, die Entscheidung wird in das Wahljahr 2022 vertagt.

Der Autor, Diplomstaatswissenschaftler/Lateinamerikanist, war als Diplomat der DDR in Kuba, Brasilien und Mocambique tätig, nach 1989 in verschiedenen UN-Missionen in Guatemala sowie Angola und von 2001 bis 2004 erster Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung für den sogenannten Südkegel (Brasilien, Uruguay, Chile) in São Paulo.