Die Beziehungen des transatlantischen Westens zur Volksrepublik China und zur Russischen Föderation haben in den ersten Wochen der Präsidentschaft von Joe Biden offensichtlich eine neue Dimension der Verschärfung erfahren. Das zeigt sich nicht nur in einer bedrohlichen Eskalation des gegenseitigen Säbelrasselns sondern auch auf dem diplomatischen Parkett.
Die Außenminister Chinas und Russlands haben anlässlich eines Arbeitsbesuchs des russischen Außenministers Sergeij Lawrow am 24. April 2021 in der südchinesischen Stadt Guilin eine Gemeinsame Erklärung abgegeben, die Signalcharakter hat. Man kann diese Erklärung auch als die partnerschaftliche Stellungnahme zu einem ähnlichen Arbeitstreffen zwischen dem US-amerikanischen und dem chinesischen Außenminister wenige Tage zuvor in Anchorage (Alaska, USA) verstehen, das mit einem Eklat endete. Ursprünglich als Sondierungstreffen zur Konzipierung der weiteren chinesisch-amerikanischen Beziehungen vorgesehen, gipfelte es in wechselseitigen Vorwürfen zum Thema Demokratie und Menschenrechte. Offensichtlich ist die Großmacht VR China nicht mehr bereit, sich von den USA wie ein Satellitenstaat abkanzeln und international vorführen zu lassen. Da sich Russland in einer ähnlichen Situation sieht, trug das russisch-chinesische Treffen konstitutiven Charakter für ein erneuertes Bündnis.
Man kann die Erklärung der Außenminister Russlands und Chinas aber auch als ein Angebot auffassen, miteinander in einen Dialog zu treten.
Klare Botschaft an den Westen
Zunächst aber enthält diese Gemeinsame Erklärung eine klare Botschaft an den Westen – und diese Botschaft hat zwei Aspekte:
Erstens: Sind bisher China und Russland jeweils als Einzelstaaten dem Westen entgegengetreten, so ist diese Erklärung Ausdruck einer neuen Qualität der russisch-chinesischen Zusammenarbeit, die sich schon in der Presseerklärung Putins vor dem „Waldai“-Diskussionsklub im Oktober 2020 andeutete. Erstmals haben China und Russland mittels einer diplomatisch-politischen Erklärung Positionen des Westens gemeinsam zurückgewiesen.
Zweitens: China und Russland haben die Allgemeinverbindlichkeit der Spielregeln des Westens für die globale Welt infrage gestellt – insbesondere dessen Interpretation von Demokratie und Menschenrechten. Zugleich haben beide Länder der Öffentlichkeit Vorschläge für wirklich universelle Grundprinzipien der internationalen Zusammenarbeit unterbreitet.
Die chinesisch-russische Erklärung ist relativ knapp und allgemein gehalten. Sie resümiert die gegenwärtigen Turbulenzen in der Welt, die sich durch die Pandemie noch verschärft haben. Sie ruft die internationale Gemeinschaft dazu auf, „Meinungsverschiedenheiten beiseite zu schieben, gegenseitige Verständigung zu verstärken und die Zusammenarbeit im Interesse einer gemeinsamen Sicherheit und geopolitischen Stabilität auszubauen sowie zur Gestaltung einer gerechteren, demokratischen, rationalen multipolaren Weltordnung beizutragen“. Indem sie dabei die gemeinsame Bewahrung des internationalen Rechtssystems – in dem den Vereinten Nationen (VN) die zentrale Rolle zukommt – in den Vordergrund stellen, verweisen die beiden Außenminister auf ein neues Verständnis von Global Governance (globaler Steuerung) in der Welt von heute beziehungsweise versuchen sie, dieses Verständnis wieder auf die ursprünglichen Wurzeln zurückzuführen.
Man muss schon genau lesen, um zu verstehen, worauf China und Russland mit ihrer Auffassung von den Grundnormen der neuen Weltordnung abzielen. Und dieses neue Verständnis unterscheidet sich von der „regelbasierten Welt“ der USA, wie W. Pawlenko in einem Meinungsbeitrag ausdrücklich betont. Er bezeichnet das Bekenntnis zur Organisation der Vereinten Nationen als „Quintessenz der russisch-chinesischen Position“. Dabei geht es insbesondere um die Stärkung der UN-Charta und der darin festgeschriebenen Ziele und Grundsätze. Gemeint sind vornehmlich die Prinzipien der Gleichheit und der Souveränität aller Völker und Staaten sowie die Berücksichtigung ihrer nationalen Besonderheiten statt der Verabsolutierung der westlichen Werte.
Nicht Vorherrschaft und das Recht des Stärkeren sollen die Weltordnung dominieren, sondern die gemeinsame Verantwortung aller Nationen.
In der Erklärung wird zugleich auf die Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen verwiesen, die „eine Vorreiterrolle beim Schutz des Völkerrechts und der darauf basierenden Weltordnung zu übernehmen“ haben. Die Einberufung eines Gipfeltreffens der ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrats würde dieser Verantwortung gerecht werden.
Die New York Times vom 29. März 2021 macht aus dieser „gemeinsamen Verantwortung“ das blanke Gegenteil, indem sie ihren Kommentar zu dieser Gemeinsamen Erklärung unter die Überschrift stellt: „China will eine neue Weltordnung anführen“. Im Text wird dann sogar behauptet, dass China „seine eigenen Werte als Modell für andere präsentiert“. Genau das wird in der Gemeinsamen Erklärung aber keineswegs getan. Dort wird lediglich die Erwartung ausgesprochen, „darauf zu verzichten, das Thema Menschenrechte zu politisieren und es als Vorwand dafür zu nutzen, sich in innere Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen und doppelte Standards zu verwenden“. Russland und China heben keineswegs die Werte ihrer Kulturen hervor, sie wollen lediglich „in diesem Bereich einen Dialog zum Wohle von Völkern aller Länder auf der Grundlage von Gleichstellung und gegenseitiger Achtung führen“. Am Ende der gemeinsamen Erklärung wird nochmals „der Dialog als zentrales Instrument der internationalen Politik“ ausdrücklich hervorgehoben, „der darauf abzielt, alle Länder der Welt zu vereinen anstatt der Konfrontation zu dienen“.
Zivilisationsmodell des Westens hat keine universelle Gültigkeit
Wie kommen transatlantische Journalisten oder auch Politiker dazu, derartige Verzerrungen eines offiziellen Textes vorzunehmen? Das scheint keineswegs böse Absicht oder gar Dummheit zu sein, sondern hängt zweifellos mit deren spezifischer Sozialisation zusammen. Sie alle leben in einer Gesellschaft, die ihnen permanent den Eindruck vermitteln will, dass sie ganz einzigartige Individuen seien und „die beste aller möglichen Welten“ erleben. Sie projizieren ihre eigene Denkweise auf die Denkweise der Vertreter anderer politischer Kulturen. Hinter ihrer Auffassung steht das manichäische Weltbild des transatlantischen Westens insgesamt: die Teilung der Welt in Gute und Böse, in „Wir und die Anderen“. Dieses Weltbild beruht auf dem Selbstverständnis des Westens als der höchsten Stufe der menschlichen Zivilisation – im Unterschied zu allen anderen real bestehenden Kulturen beziehungsweise Zivilisationen, in deren Rahmen die annähernd 200 Staaten dieser Welt koexistieren.
Man sollte sich an Samuel P. Huntington erinnern, der bereits in den 1990er Jahren darauf aufmerksam machte, dass „der Glaube an die Universalität der westlichen Welt an drei Problemen [kranke]: er ist falsch, er ist unmoralisch, und er ist gefährlich“. Huntington sah in einer Politik des Westens, die „unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen“ nicht berücksichtige, die Wurzel für Konflikte zwischen den Staaten verschiedener Zivilisationen, respektive Kulturkreise – insbesondere an deren Randzonen. Genau diese Vorhersage hat sich mit den Kriegen auf dem Balkan sowie im Nahen und Mittleren Osten bestätigt. Man muss Vorstellungen Huntingtons vom „Kampf der Kulturen“ nicht teilen; unbestreitbar bleibt jedoch die tiefe Widersprüchlichkeit zwischen dem Westen und dem Rest der Welt.
De facto hat die Verabsolutierung der westlichen Werteorientierung in der Außenpolitik missionarischen Charakter mit einem neokolonialistischen Anspruch. Das Wertesystem des Westens wird als Verkörperung allgemein-menschlicher Werte dargestellt. Aus der Menschenrechtserklärung der VN werden selektiv und einseitig die westlichen Vorstellungen über Grundrechte, Freiheit und politische Demokratie in den Vordergrund gestellt.
Dieses Zivilisationsmodell entspricht dem Lebensbild des „weißen Mannes“, der Anfang des 16. Jahrhunderts begann, sich die außereuropäische Welt zu unterwerfen – und dies bis heute durch den Westen praktiziert. Nur was der „weiße Mann“ (samt seiner „weißen Frau“) beschließt, soll Geltung in der Welt haben. Das ist letztlich struktureller Rassismus. Innenpolitisch ist alles geglättet und antirassistisch aussehend. Da wird durch Genderisierung und endlosen Streit darüber, wie zum Beispiel Menschen nichtweißer Hautfarbe oder nonbinärer sexueller Orientierung politisch korrekt bezeichnet werden dürfen, die Gesellschaft bis in kleinste Minderheiten parzelliert. Statt soziale Gemeinsamkeiten und das Gemeinwohl herauszustellen, werden in unserer Gesellschaft die Rechte und Besonderheiten des Individuums fetischisiert. Nach außen aber werden ganze Völker mit Häme, Hass und Hysterie überschüttet, um das westliche Lebensbild weltweit durchzusetzen.
Zäsur im geostrategischen Kräfteverhältnis markiert
Gegen den außenpolitischen Hegemonialanspruch der westlichen Zivilisation wenden sich zunehmend Nationen, die nicht zum transatlantischen Westen gehören und auch nicht von ihm einvernommen werden wollen. China und Russland haben in der gemeinsamen Erklärung ihrer Außenminister ein Signal gesetzt, dass die Zeiten des Kolonialismus und Neokolonialismus endgültig vorbei sind. Die Einheit der Welt besteht in ihrer Vielfalt. Und diese Vielfalt verlangt Kooperation und Dialog. Das ist der Kern des Papiers, das in den USA und auch in Deutschland heftige, panikartige Reaktionen ausgelöst hat.
Die Beunruhigung des Westens ist durchaus berechtigt; denn die Gemeinsame Erklärung markiert zugleich eine Zäsur im geostrategischen Kräfteverhältnis. Die Ära der unangefochtenen Hegemonie der USA und des transatlantischen Westens ist faktisch beendet. Hinter dem Text der Erklärung stehen vor allem irreversible Veränderungen im geoökonomischen Kräfteverhältnis. China hat die USA im Umfang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bereits eingeholt und ist den USA in der Wirtschaftsdynamik eindeutig überlegen. Außerdem ist die VR China durch stabile Netzwerke fest in die globalisierte Weltwirtschaft eingebunden und kann daraus nicht mehr verdrängt werden. Dabei kann China sich in der technologischen Breite seiner Spitzenleistungen noch keineswegs mit den USA und der Europäischen Union messen. Sanktionen vonseiten dieser Staaten können Chinas Vorankommen aber nicht mehr verhindern, sondern lediglich behindern.
Gemeinsam mit Russland gibt es strategische Bereiche, in denen diese beiden Staaten mit dem Block des Westens durchaus konkurrenzfähig sind. Das ist der gesamte Ressourcenbereich. Und das sind auch Nuklear- sowie Weltraumtechnologien und, zumindest für China, der Zukunftstrend Digitalisierung.
Im militärischen Bereich verfügen sowohl Russland als auch China über die sogenannte strategische Triade, das heißt über die Fähigkeit, strategische Nuklearwaffen boden- (mobil und stationär), luft- und seegestützt einzusetzen. Die quantitative Unterlegenheit Chinas könnte vom Nuklearpotential Russlands ausgeglichen werden. Zur Frage eines engeren Militärbündnisses zwischen Russland und China ist der Austausch eröffnet worden.
Zweifellos wird es im Sommer 2021 zu einer Erneuerung des russisch-chinesischen Freundschaftsvertrages von 2001 kommen. Die Schwerpunkte dieser Zusammenarbeit sind bereits abgestimmt.
Trend zu neuer Bipolarität
Im Verbund sind China und Russland wirtschaftlich auf die USA und auch die EU nicht mehr zwingend angewiesen. Die zukünftige Rolle Indiens ist zwar in vieler Hinsicht noch offen, aber demografische Entwicklung und Wirtschaftsdynamik sprechen für einen starken eurasischen Block. Der Trend geht eindeutig zu einer neuen Bipolarität. Wie die historischen Erfahrungen beweisen, muss das nicht unbedingt destabilisierend sein.
Offen ist auch die Frage nach der Zukunft Europas und, vor allem die Rolle, die die Europäische Union in dem neuen geostrategischen Kräfteverhältnis spielen will. Bleiben die EU und Deutschland Vasallen der USA oder gelingt es, so etwas wie eine „strategische Autonomie“ durchzusetzen? Am besten wäre, es, wenn die EU die Kraft fände, als vermittelndes Glied zwischen den großen Rivalen zu fungieren. Das könnte am ehesten eine Überlebenschance für den Fall der weiteren Zuspitzung der Konfrontation zwischen den Rivalen bedeuten. Es wäre auch die einzige Möglichkeit, geostrategisch überhaupt noch eine Rolle in der Welt zu spielen. Zersplittert und als bloßes Anhängsel der USA würde das westliche Europa wohl in historischer Bedeutungslosigkeit versinken.
Überschrift von der Redaktion geändert; auf die Wiedergabe der Quellenangaben wurde verzichtet.
* – Dieser Beitrag ist einem umfassenderen DGKSP-Diskussionspapier entnommen, das auch den Wortlaut der hier kommentierten chinesisch-russischen Erklärung sowie die weiteren zitierten Beiträge enthält; zum Gesamtpapier hier klicken – oder hier.
Schlagwörter: China, Global Governance, Russland, Wilfried Schreiber