24. Jahrgang | Nummer 8 | 12. April 2021

Frei sein

von Stephan Wohanka

Zuletzt las ich Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“. Etwas redundant das Ganze; ein beherztes, zu Streichungen entschlossenes Lektorat hätte dem Buch gutgetan …

Auf Seite 88 traf ich auf folgenden Satz: „Er war […] in der schrecklichsten Situation, in der man sich in seinem Alter befinden konnte: Er war frei.“ Ich stutzte bei diesem – ja was? vielleicht noch kein Aperçu, aber doch mehr als ein bloßer Gedanke; auf einen Mann meines Alters gemünzt und meine momentane Situation widerspiegelnd: Auch ich bin frei.

Freisein also… Nichts Schöneres auf Erden; wer will nicht frei sein, seine oder auch nur die Freiheit genießen? Wie viele Kämpfe wurden ihretwegen ausgefochten, wie viele Hymnen wurden ihr gesungen, der Freiheit, wie viele Oden an sie gerichtet – man rutscht schnell ins Sentimentale … Wie lässt sich damit vereinbaren, sich „in der schrecklichsten Situation“ zu befinden?

Paradoxerweise kann „Weniger“ frei machen. Das simple Beispiel bieten die zigtausend Ratgeber, die dazu auffordern, nur noch die Bekleidungsstücke im Schrank hängen zu lassen, die man im letzten Jahr getragen hat. Ein „Jens Förster fühlt sich förmlich erdrückt. Und er handelt. ,Ich holte mir ein paar Abfallsäcke und füllte sie mit all dem Zeug, das ich seit Jahren nicht mehr benutzt hatte‘… Drei Tage später trägt er 30 Sechzig-Liter-Säcke aus dem Haus, verschenkt 20 Paar Schuhe und 300 Bücher. ,Ich fühlte mich richtig gut – und befreit.‘“ Hierbei geht es beinahe ausschließlich um schnöde materielle Dinge; ausgenommen vielleicht Bücher, Schallplatten … wobei das beinahe schon altmodische Dinge sind.

Es gibt aber auch noch ein „Weniger“ in der sozialen Sphäre; ob das in jedem Falle frei macht? Die gerade von vielen, ja quasi allen durchlebten, den Corona-Maßnahmen geschuldeten Einschränkungen des öffentlichen, ja privaten Lebens verneinen die eben gestellte Frage klar. Wenn uns „normalerweise“ die mit dem gesellschaftlichen Leben und dem Konsum einhergehende Betriebsamkeit, die man mit anderen teilt, vom Grübeln über den Sinn des Lebens, über die „großen Fragen“ abhält, so führt uns die aktuelle Lage ziemlich unvermittelt vor, dass unser Freisein – wenn überhaupt – in der „Einsicht in die Notwendigkeit” bestehen kann. Besser gesagt: Die Lage verlangt uns ein hohes Maß an individueller Standfestigkeit, an gesellschaftlicher „Resilienz“ ab. Dass schlimmste wohl erfahrbare und zugleich schmerzlichste soziale „Weniger“ ist der Tod des einem nächsten Menschen; er macht „frei“, man steht plötzlich allein da und befindet sich „in der schrecklichsten Situation.“

Eben geschilderte Ereignisse sind mit „Verlusten und Verlusterfahrungen verbunden. […] Eine resiliente Person oder Gesellschaft kann versuchen, nach den erlittenen Verlusten rasch wieder zur Tagesordnung überzugehen. Es könnte aber klüger sein, aus der Erfahrung des Verlusts Konsequenzen zu ziehen, sie in die Gegenwart zu integrieren und das eigene Verhalten in der Zukunft entsprechend zu modifizieren. Die Corona-Krise beispielsweise konfrontiert die westlichen, verhältnismäßig alten Gesellschaften brutal mit der Sterblichkeit, mit der Fragilität gerade ihres älteren Bevölkerungsteils oder auch mit der Frage, welche Elemente des eigenen Lebensstils essenziell und welche entbehrlich sind“, schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz.

Ist „klüger“ in diesem Kontext der richtige Begriff? Was „die westlichen, verhältnismäßig alten Gesellschaften“ angeht, sind sie ganz bestimmt „mit ihrer Sterblichkeit, mit der Fragilität gerade ihres älteren Bevölkerungsteils“ konfrontiert; ich denke aber um ein Mehrfaches mit den Herausforderungen des Klimawandels, des Artensterbens und der Übernutzung und Verschmutzung der Medien Boden, Wasser und Luft. Sich diesen naturgegebenen, aber menschgemachten Problemen zu stellen, ist keine Frage von Klugheit, sondern „alternativlos!“ Hier darf das überstrapazierte und häufig sachlich falsch benutzte Wort wirklich fallen. Und es ist kein Verlust an Freiheit, wenn wir einsehen, dass nicht alle „Elemente des eigenen Lebensstils essenziell“ sind, viele davon sind tatsächlich „entbehrlich.“ Das schließt eine Demut vor Fakten und Argumenten und so – namentlich heutzutage – nicht selten die Revision der eigenen Meinung ein.

Und auch ein vom Tode des Nächsten Betroffener vermag wohl nur in seltenen Fällen „wieder zur Tagesordnung überzugehen“, denn in der Regel ist der engste persönliche Lebensbereich in seinen tiefsten Grundlagen erschüttert, ja weggebrochen. So müssen Hinterbliebene diese Grundlagen nicht nur erneuern, sondern stehen vor einem Anfang, einer biografischen Umorientierung, wozu insgesamt ein hohes Maß an innerer Stärke, Umsicht, Mut und Phantasie vonnöten ist. Resilienz hoch zwei.

Es geht dabei zunächst einmal darum, die neben der verständlichen Traurigkeit aufkommenden belastenden, von Hoffnungslosigkeit dominierten Gedankenmuster zu durchbrechen und zu versuchen, die Perspektive zu wechseln. Studien deuten darauf hin, dass ein positives Selbstbild dabei hilfreich ist: Wer sich selbst wertschätzt, hat es im Leben leichter. Menschen mit einer wohlwollenden Einstellung zur eigenen Person leiden seltener an Depressionen, sind zufriedener mit sich und der Welt sowie ihren Beziehungen. Nach eigener Wahrnehmung sind es vor allem Beziehungen, soziale Kontakte, die zur Stabilisierung der eigenen Person in psychischen Extremlagen beitragen. Und das deshalb, weil man als Mensch nicht allein überlebt; man braucht dazu das Zugehörigkeitsgefühl zu einer „Gruppe“ – seien es Freunde, Bekannte; am besten aber Familie. Und die positive soziale Interaktion ist wiederum wichtig für den Selbstwert: „Wer sich in seinen eigenen vier Wänden verkriecht, beraubt sich dieser Chance.“ Wobei – siehe oben – Corona-Maßnahmen momentan diese Bemühungen deutlich konterkarieren.

Wenn ich an meinem Arbeitsplatz vor meinem Computer sitze, den Blick hebe und aus dem Fenster schaue, fällt dieser Blick häufig auf einen Obdachlosen, der sich schon frühmorgens vor dem gegenüber befindlichen S-Bahnhof aufhält, Zeitung liest und Bier trinkt. Es ist nur eine Frage der kurzen Zeit, bis sich andere, zum Teil wohl auch Obdachlose zu ihm gesellen; auch Vorbeikommende bleiben stehen und man redet miteinander. Er also ist nicht allein, während ich, die Szene beobachtend, allein bin, manchmal zwei, drei Tage lang. Hat er es besser als ich? Fraglich – ich weiß zwar nicht, wo er schläft (möglicherweise hier in der Nähe unter einer Unterführung), aber ich habe ein, mein bequemes Bett. Und eine behagliche Wohnung, kann den Fernseher anmachen oder Radio hören, kann nach Büchern in meine übervollen Regale greifen … Aber was soziale Kontakte angeht, hat er es besser als ich es momentan habe – was wiegt schwerer?

Als Antwort kann vielleicht die auf Kant fußende und von Isaiah Berlin entwickelte Unterscheidung der Freiheit in „negative“ und „positive“ Freiheit dienen: Negative Freiheit (Freiheit von) bezeichnet einen Zustand, in dem keine von anderen Menschen ausgehenden Zwänge ein Verhalten erschweren oder verhindern; positive Freiheit (Freiheit zu) bezeichnet einen Zustand, in dem die Möglichkeit der passiven Freiheit auch tatsächlich genutzt werden kann oder auch tatsächlich genutzt wird. Folglich: Sowohl der Obdachlose, so muss ich unterstellen, als auch ich sind frei von persönlichen Zwängen, die aus einer Partnerschaft herrühren; es besteht ein Patt. Was nun die Freiheit zum Aufbau neuer sozialer Kontakte und dauerhafter Beziehungen und die Möglichkeiten einer auskömmlichen Lebensführung angeht, sehe ich mich etwas im Vorteil: Ich habe eine Wohnung, meine materiellen Voraussetzungen sind wesentlich günstiger.

Alles in allem – „frei sein“ kann verdammt anstrengend, frustrierend und psychisch belastend sein; das Joch der Zweisamkeit erschien dagegen ein leichtes.