An Indiens nördlichen Grenzen zu China und Pakistan ist in den letzten Tagen ein Prozess angelaufen, in dessen Endergebnis die militärisch gefährlichen Situationen entschärft werden sollen. Ende Februar verkündeten die indische und die pakistanische Regierung, die seit Jahren bestehenden Abmachungen zur Waffenstillstandslinie in Kaschmir wieder zu befolgen und jegliche Verletzung zu vermeiden. Nur kurz zuvor hatten chinesische und indische Militärs bekannt gegeben, an der gemeinsamen Grenzlinie in Ladakh die militärische Konfrontation zu beenden und ein Auseinanderrücken (disengagement) der Truppen durchzuführen.
Für viele Beobachter kamen diese Ankündigungen überraschend, denn zu fest gefahren schienen die Positionen. Vor allem die Übereinkunft mit Pakistan kam unerwartet. Denn seit mehr als drei Jahren hatte es zwischen Indien und Pakistan keine Kontakte mehr gegeben, die Spannungen zwischen beiden Ländern nahmen ständig zu. Besonders betroffen war die Region Kaschmir mit seiner Waffenstillstandslinie. Indien gibt für das Jahr 2020 5133 Grenzverletzungen durch Pakistan an, Pakistan beziffert die von indischer Seite ausgehenden Vorfälle auf 3000. Fast täglich wurde geschossen, teilweise mit schwerer Artillerie. Die Zahl der Opfer auf beiden Seiten ist beträchtlich. Jetzt soll damit Schluss sein, eine entsprechende Erklärung der Generaldirektoren für militärische Operationen beider Verteidigungsministerien hält das so fest.
Sowohl für Indien als auch für Pakistan bedeutet die Abmachung eine Abkehr von der in den letzten Jahren verfolgten Politik der Konfrontation. Nach den schweren Anschlägen von aus Pakistan operierenden Terroristen gegen indische Einrichtungen hatte Neu Delhi jegliche Gespräche mit Islamabad abgebrochen. Es galt die Devise „Terror und Gespräche sind nicht vereinbar“. Pakistan wies die angebliche Unterstützung für die Terroraktionen zurück. Zu einem wahren Taumel nationalistischer Politik ließ es sich hinreißen, als Indien im August 2019 den Autonomiestatus seines Bundesstaates Jammu und Kaschmir und damit verbundene Privilegien und Rechte beseitigte. Die von Pakistan groß angelegte internationale Kampagne, Indien zur Rücknahme der Maßnahmen gegen Kaschmir zu bewegen, war erfolglos und fiel in sich zusammen.
Medien zufolge war es Pakistan, das Mitte Februar die Fühler für eine Verständigung mit Indien ausstreckte. Indien antwortete wohlwollend und als erste Maßnahme gestattete es den Flug des pakistanischen Premiers über indisches Territorium nach Sri Lanka. Vor dem dortigen Parlament erklärte Imran Khan: „Der einzige Streitpunkt mit Indien ist Kaschmir, und der kann nur durch einen Dialog gelöst werden.“ Erstaunliche Worte, die nicht in das bisherige Schema der pakistanischen Indienpolitik passen.
Beobachter suchen nach dem Grund für den plötzlichen Sinneswandel der pakistanischen Führung. Aber auch die Änderung der indischen Haltung ist Gegenstand der Betrachtungen. Ohne Zweifel wirkt sich das verkündete modifizierte Herangehen der Biden-Administration an die Probleme Asiens und Südasiens bereits aus. Es schließt die Abkehr von der Trumpschen Konfrontationspolitik ebenso ein, wie den Versuch einer Neugruppierung der Kräfte unter US-Führung in diesem Teil der Welt. Auffallend ist eine rege diplomatische Tätigkeit Washingtons mit Neu Delhi und Islamabad in den letzten Wochen, zu der sich Sprecher des US-State Departments mehrmals äußerten. Es sind sachliche Feststellungen, die die Notwendigkeit guter Beziehungen der USA sowohl zu Indien als auch zu Pakistan betonen. Zu Pakistan heißt es: „Wir haben bedeutende gemeinsame Interessen in der Region, und wir werden fortfahren, auf dieser Grundlage mit den pakistanische Autoritäten eng zusammen zu arbeiten.“ Insbesondere wurde die wichtige Rolle Pakistans in Bezug auf Afghanistan hervor gehoben und appelliert, hier eine konstruktive Rolle zu spielen.
Indien, das sich unter Präsident Trump bevorzugt behandelt glaubte, dürften einige Feststellungen des State Departement nicht gefallen. So wird von „produktiven und konstruktiven“ Beziehungen der USA zu Indien und Pakistan gesprochen, die nicht zu Lasten der einen oder anderen Seite gestaltet werden sollten. Das ist praktisch eine Gleichsetzung beider Staaten. Zu Kaschmir wird die Hoffnung nach einer Verhandlungslösung und der Wiederherstellung der dort eingegrenzten demokratischen Rechte ausgedrückt. Der nach indischer Auffassung entscheidende Punkt, der von Pakistan ausgehende staatsübergreifende Terrorismus, spielt hingegen eine untergeordnete Rolle. Schon werden in der indischen Öffentlichkeit Befürchtungen geäußert, wonach – trotz der neuen Abmachungen – von in Pakistan basierenden islamistischen Organisationen erneut Terroranschläge in Kaschmir stattfinden könnten.
Auch im äußersten Norden Indiens, am Karakorum-Gebirgszug und im angrenzenden Ladakh gibt es zwischen Indien und China Zeichen der Entspannung. Seit fast einem Jahr stehen sich an strategisch wichtigen Stellen der Waffenstillstandslinie indische und chinesische Truppen gegenüber. Zwischen Militärs und Diplomaten gab es zwar ständig Treffen und Gespräche, jedoch ohne greifbare Erfolge. Es war ein Kräfteringen und Taktieren, mit der der Gegenseite Erfolge abgerungen werden sollten. Jetzt wurde mit dem Auseinanderrücken der Truppen am Nord- und Südufer des Pangong-Sees begonnen, schweres Gerät wie Panzer und Artillerie wurden abgezogen. Im Anschluss daran soll eine zweite Phase greifen, in der weiter nördlich die nächsten Konfrontationspunkte beseitigt werden sollen. Sie umfassen auch das Depsang-Gebiet, eine etwa 1000 Quadratkilometer große Hochebene. Sie ist für China strategisch äußerst wichtig, da in ihrer Nähe über die Pässe des Karakorum der Abzweig der Neuen Seidenstraße – hier Ökonomischer Korridor genannt – von China nach Pakistan verläuft. Indien fordert den Rückzug der hier vor einem Jahr vorgerückten chinesischen Truppen, die ein indisches Flugfeld sowie die neu gebaute Verbindungsstraße nach Leh bedrohen. Doch Peking scheint zu zögern. Stattdessen schlug der chinesische Außenminister vor, bereits jetzt, nach Realisierung der ersten Phase des Truppenrückzugs, die von Indien eingeschränkten bilateralen Beziehungen wieder voll zu entwickeln.
In Indien ist man trotzdem optimistisch, dass die von beiden Seiten vorgesehenen Maßnahmen realisiert werden. Es wird davon ausgegangen, dass Peking unter Zugzwang steht. Der Grund ist auch hier die modifizierte Asienpolitik der USA, vor allem das Bestreben, eine internationale Koalition gegen China zusammen zu bringen. China werde versuchen, dem entgegen zu wirken, heißt es. Dabei spiele Indien eine wichtige Rolle. Es gelte, es zu neutralisieren, unter anderem durch Zugeständnisse in territorialen Fragen. Indien wird zurzeit von China umworben. So verkündete Außenminister Wang am Rande des Nationalen Volkskongresses, dass beide Staaten Freunde und Partner seien, keine Rivalen, die sich bedrohen.
Avancen Pekings gibt es auch auf anderen Gebieten. Indien hat am 15. Februar von Russland den Vorsitz der BRICS-Gruppierung übernommen und wird in diesem Jahr das fällige Gipfeltreffen ausrichten. Für China ist diese Gruppierung ein wichtiges Instrument im internationalen Geschehen, es ist an seiner erfolgreichen Wirksamkeit äußerst interessiert. Die chinesische Regierung sicherte Indien eine weitgehende Unterstützung bei der Ausrichtung des Treffens zu. Es wurde angedeutet, dass Präsident Xi im zweiten Halbjahr Indien besuchen werde.
In das asiatische Geschehen ist Bewegung eingezogen. Vom Iran, über Afghanistan, Pakistan und Kaschmir bis zur indisch-chinesischen Grenze werden bisherige Positionen überdacht, es gibt Gespräche und einzelne Abmachungen. Gemessen an den Problemen, die die Region auszeichnen, sind die getroffenen Vereinbarungen nur kleine Schritte. Darüber hinaus ist ungewiss, in welche Richtung die partiellen Entspannungsbemühungen wirken werden. Wie das erste Gipfeltreffen der sogenannten Quad-Gruppierung – bestehend aus Australien, Japan, Indien und den USA – vor wenigen Tagen verdeutlichte, sind die USA eifrig bemüht, neue Fronten und Bündnisse im asiatischen und indo-pazifischen Raum aufzubauen.
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