24. Jahrgang | Nummer 7 | 29. März 2021

Auswandern auf den Mars – wie realistisch ist das?

von Dieter B. Herrmann

Elon Musk, der sich neuerdings offiziell „Technoking of Tesla“ nennt, wird nicht müde, als das eigentliche Ziel seiner Raumfahrtpläne die Besiedelung des Mars durch Millionen von Menschen zu verkünden. Er ist fest davon überzeugt, dass die Zukunft der Menschheit nicht auf den Heimatplaneten Erde beschränkt bleiben wird. Eine kühne Vision, aber keine neue.

Im Gegenteil: Dieser „Traum“ hat eine lange Geschichte. Sie beginnt im zaristischen Russland des 19. Jahrhunderts, als der taube Dorfschullehrer Konstantin Ziolkowski in Kaluga an die Möglichkeit von Weltraumfahrt glaubte und eine Fülle wissenschaftlicher Arbeiten vorlegte, die heute als die theoretischen Grundlagen der Raumfahrt gelten. Schon Ziolkowski entwarf aber auch ungewöhnlich weitreichende Zukunftspläne, deren technische Basis eine künftige Raumfahrt bieten sollte. Von ihm stammt der inzwischen vielzitierte, berühmt gewordene Ausspruch: „… der Planet ist die Wiege des Verstandes, aber man kann nicht ewig in der Wiege leben […] Die Menschheit wird nicht ewig auf der Erde bleiben, sondern auf der Jagd nach Licht und Raum zuerst schüchtern über die Grenzen der Atmosphäre hinausdringen und sich dann den ganzen Raum um die Sonne erobern.“ Philosophisch befeuert wurde diese Idee durch die einflussreiche Strömung des russischen Kosmismus und dessen Stammvater Nikolai Fjodorow. Sein Kerngedanke: die Vereinigung der Menschheit in einer „gemeinsamen Tat“. Neben der Beseitigung aller Feindseligkeiten unter den Menschen zählt auch die Besiedlung des Kosmos dazu. In der russischen Oktoberrevolution mit ihren Zielen für eine gerechtere Welt erwies sich der Kosmismus als ein direkt anschlussfähiges „radikal russisches Moderne Projekt“ (Bernd Scherer) von immenser Ausstrahlungskraft auf Philosophen, Maler, Komponisten und Dichter wie Tolstoi und Dostojewski.

Nachdem der erste Sputnik 1957 geflogen war, sahen Visionäre sofort den Beginn einer neuen Ära, dem „Zeitalter der Raumfahrt“. Sie haben recht behalten. Die dritte Dimension jenseits der Erdatmosphäre gehört heute zum Alltag menschlicher Aktivitäten. Mit den Hilfsmitteln der Raumfahrt haben wir nicht nur die nähere räumliche Umgebung unserer Erde sondiert und Wichtiges über unseren eigenen Heimatplaneten gelernt. Wir sind auch forschend zu anderen Himmelskörpern des Sonnensystems vorgedrungen, von Merkur bis in die äußeren Grenzbereiche des Systems jenseits von Pluto. Diese zweifellos atemberaubende Entwicklung binnen weniger Jahrzehnte hat auch eine neue Generation von „Träumern“ beflügelt. Hinzu kamen alarmierende Erkenntnisse über die Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde durch die industriellen Aktivitäten der Menschheit, vor denen schon Friedrich Engels im 19. Jahrhundert gewarnt hatte. Die Natur rächt jeden über sie vermeintlich errungenen Sieg, hatte Engels gemeint, und den ersten Resultaten, die der Mensch berechnet, folgten weitere, die meist unvorhergesehen einträten und höchst unerwünscht seien.

Der „Club of Rome“ hat diese Entwicklung 1972 ungeschönt in seinem ersten Bericht über die „Grenzen des Wachstums“ dargestellt. Dieser Weckruf ist zwar allerorts vernommen worden, hat aber nicht viel bewirkt, wie der Blick in den 45 Jahre später erschienenen jüngsten Bericht „Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen“ erkennen lässt. Ob diese erforderlichen grundsätzlichen Veränderungen der gegenwärtigen Art des weltweiten kapitalistischen Wirtschaftens der reichen Industrienationen schnell genug umgesetzt werden, darf man nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zumindest bezweifeln. Was wunder, wenn die Aussiedelungsprojekte neue Nahrung erhielten. Doch diesmal blieb es nicht bei allgemeinen philosophischen Phantasien, sondern Wissenschaftler und Techniker wendeten sich konkreten Projekten zu. Einerseits wurden Pläne für künstliche Habitate ausgearbeitet, in denen lebensfreundliche Bedingungen realisiert werden sollten. Zum anderen dachte man an die Besiedelung natürlicher Himmelskörper, insbesondere des Planeten Mars. Von riesigen künstlichen Wohnstätten im All hatte schon der berühmte britische Kristallograph und Wissenschaftsforscher John Desmond Bernal geträumt und seine Vorstellungen bereits drei Jahrzehnte vor dem Start des ersten Sputnik publiziert. Auf seine Spuren begab sich dann der US-amerikanische Physiker Gerard O’Neill in den 1970er Jahren mit großem Elan und Einfallsreichtum. Als er bei der NASA keine Unterstützung fand, gründete er ein privates „Space Studies Institut“, das noch heute aktiv ist. In seinem Buch „Unsere Zukunft im Raum“ (1978) schilderte er detailliert, wie er sich die Verwirklichung seiner Pläne vorstellte.

Die Anhänger einer Marsbesiedlung fanden ihre ersten Fürsprecher frühzeitig in Wernher von Braun (1952) und dem Astronomen Carl Sagan (1973). Er favorisierte sogar eine globale Umgestaltung des trockenen kalten Wüstenplaneten in einen von Menschen bewohnbaren Himmelskörper durch sogenanntes Terraforming. Dies soll dadurch in Gang gesetzt werden, dass Kohlenstoffdioxid, gebunden in den Karbonaten der Marsoberfläche oder in Form von „Trockeneis“ an den Polkappen, freigesetzt wird und dadurch einen Treibhauseffekt auslöst, der auch wieder flüssiges Wasser auf dem Mars zu Folge hätte. Inzwischen sind zahleiche wissenschaftliche Studien erschienen, in denen diese Möglichkeiten detailliert untersucht wurden. Doch niemand weiß, ob es gelingen könnte, denn die Menge gebundenen Kohlenstoffdioxids ist unbekannt. Selbst wenn sie hinreichend wäre, könnte ein Terraforming des Mars mehr als 100.000 Jahre in Anspruch nehmen. Deshalb zielen gegenwärtige Projekte darauf ab, die Ansiedlung von Menschen in geschlossenen Ökosystemen auf oder (wegen des Strahlenschutzes) unter der Oberfläche des roten Planeten zu etablieren.

Dieses Ziel verfolgt auch Elon Musk mit der Gründung von „Mars City“, einer ersten Stadt, der dann weitere folgen sollen. Der konkrete Plan klingt aberwitzig: Mit wiederverwendbaren Raketen und Raumschiffen für jeweils 100 Passagiere will Musk im Abstand von etwa zwei Jahren jeweils 1000 Raumschiffe zu Mars schicken, so dass binnen 20 Jahren eine Million Menschen auf dem Mars leben. Die erforderliche Infrastruktur muss natürlich schon zuvor geschaffen werden, hauptsächlich mit Baumaterial vom Mars selbst. Ein internationales Heer von Technikern, Architekten und Designern arbeitet bereits an den zahlreichen Details, die zuvor noch geklärt werden müssten. Dass es sich hierbei um sehr konkrete Pläne handelt, zeigen die intensiven Vorbereitungen vieler Staaten zum Abbau von Rohstoffen des Mondes, des Mars und der Asteroiden. Private Firmen schwelgen in einer neuen Goldgräberstimmung und versprechen sich enorme Gewinne. Die USA haben bereits 2015 in einem dreisten Akt ein Gesetz geschaffen, das es jeder US-amerikanischen Firma erlaubt, Rohstoffe des Weltraums in Besitz zu nehmen. Doch der Weltraum gehört nicht den USA, sondern ist nach dem Weltraumvertrag von 1967 gemeinsames Erbe der Menschheit. Es bedarf also internationaler verbindlicher rechtlicher Regelungen, an denen zwar gearbeitet wird, von denen man aber angesichts der Interessenskonflikte und der inzwischen stark gestiegenen Zahl von Mitgliedern des Weltraumausschusses der UNO noch weit entfernt ist. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere ungelöste Probleme im Zusammenhang mit Aussiedlungsprojekten jenseits ihrer technischen Realisierbarkeit.

Fazit: Aussiedlungsprojekte widersprechen weder den Naturgesetzen, noch wären sie technisch prinzipiell unlösbar. Doch alle bisherigen Zeitprognosen haben sich als völlig verfehlt erwiesen. Eine nüchterne Analyse führt unweigerlich zu dem Schluss, dass die vordringlichste Aufgabe der Menschheit in den kommenden Jahrzehnten darin bestehen muss, alles zu tun, um die Erde als bewohnbare Heimat für Menschen, Tiere und Pflanzen zu erhalten. Das wird aber nur möglich sein durch einen tiefgreifenden Wandel in den gegenwärtig herrschenden Wirtschaftsformen, dem heutigen rücksichtslosen Wachstum auf Kosten der Umwelt und der noch immer weit verbreiteten nationalen Egoismen. Ob dieser Wandel gelingen wird, ist alles andere als sicher. Die Kolonisation des Weltraums – sollte sie überhaupt jemals kommen – liegt indessen weit jenseits jenes Zeithorizonts, den selbst kühnste Zukunftsforscher zu prognostizieren vermögen. Doch allein wegen der Unwägbarkeiten und Risiken der Zukunft sollte man die Vordenker – und mögen ihre Überlegungen heute noch so spekulativ erscheinen – dennoch ermutigen. Vielleicht führt der weitere Weg die Menschheit ja tatsächlich dereinst in eine heute noch kaum vorstellbare kosmische Zukunft.