Die Bundeswehr steckt in einem Dilemma – zumindest seit dem Herbst 1990. Der potenzielle Gegner ging verloren. Er trat sogar in Gestalt von etwa 90.000 NVA-Soldaten der Bundeswehr bei. Der Warschauer Pakt löste sich selbst auf. Der reale Sozialismus verschwand von der Bildfläche. Eine neue Weltordnung setzte sich durch. Für Viele schien das „Ende der Geschichte“ angebrochen zu sein. Brauchen wir also noch eine Bundeswehr? Und wenn ja, wie soll sie aussehen und was soll sie können? Diese Fragen sind bis heute nicht schlüssig beantwortet.
Wilfried von Bredow unternimmt mit seinem neuen Buch „Armee ohne Auftrag“ den Versuch zu erklären, warum das so ist. Von Bredow versteht sich als Realpolitiker, der die deutsche Sicherheitspolitik in den letzten 30 Jahren und die Entwicklung der Bundeswehr einer nüchternen Analyse unterzieht. Er tut dies mit akribischer Genauigkeit: Er benennt die vielfältigen Wandlungen in der Weltlage und die Schwierigkeiten der Politik, dazu Strategien zu finden. Und er beschreibt die Reflexion dieser Probleme in der Bundeswehr selbst – die Konsequenzen für Personal, Ausrüstung und Stellung in der Gesellschaft, vor allem aber die vielen Irritationen für die Bürger.
Die Bundeswehr durchlief in dieser Zeit vielfältige Wandlungen. Sie wurde in mehreren Schritten drastisch reduziert, von 495.000 auf circa 180.000 Soldaten; sie öffnete sich gleichzeitig für Frauen und sie wurde mehrfach reformiert. Von Bredow beschreibt ausführlich den „Reformstress“ bei steigenden und sich ständig verändernden Anforderungen.
Ja, es liest sich gut, dieses Buch – über alle 200 Seiten. Es ist flüssig und verständlich geschrieben. Es ist informativ und übersichtlich. Am Ende kommt der Autor zu dem Schluss und Resümee: „Die deutsche Sicherheitspolitik weiß mit der Bundeswehr nichts Richtiges anzufangen. Diese These durchzieht jedes einzelne Kapitel dieses Buches“. Das ist zugleich der Kern des Dilemmas der Bundeswehr und auch der Kritik des Autors.
Interessant und problematisch zugleich ist der Ausweg, den der Autor aus dem Dilemma weist. Wilfried von Bredow betont, die Deutschen sollten akzeptieren, „dass die Streitkräfte in der Tat ein wesentliches, ja ein unabdingbares Instrument der Sicherheitspolitik sind“. Er sagt das gleich am Anfang, gewissermaßen programmatisch. Man könnte meinen, der Autor stehe hier ganz an der Seite von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die kürzlich forderte, sich auf die „gute Tradition einer Politik der Stärke“ zu besinnen, wenn man mit Russland und China rede. Aber das sagt der Autor nicht, zumindest nicht direkt. Er fordert lediglich eine funktionierende Bundeswehr. Und er bekräftigt damit nur eine Aussage, die schon im Bundeswehrweißbuch 2016 getroffen wird.
Wenn er aber betont, dass Deutschland gar nichts anderes übrigbleibe, „ als die eigenen Interessen – die direkten materiellen Interessen wie die an einer werte- und normengebundenen Ordnung – mit dem ganzen Spektrum der zur Verfügung stehenden sanften und harten Macht zur Geltung zu bringen“, ist das zumindest fragwürdig. Was bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gängiges Denkmuster war, funktionierte schon nicht mehr während der Blockkonfrontation und führte lediglich zu einem ruinösen Wettrüsten mit einem fragilen Gleichgewicht der gegenseitigen Abschreckung.
Inzwischen hat sich die Welt erneut komplett verändert. Dabei sind völlig neue Herausforderungen entstanden. Vor allem aber sind neue wechselseitige Abhängigkeiten entstanden. Die Welt ist durch die Globalisierung zusammengewachsen. Damit ist sie aber auch für Störungen anfälliger geworden. Je höher der technologische Stand, desto gravierender die Auswirkungen.
Parallel zu dieser wechselseitigen Abhängigkeit hat sich das geostrategische Kräfteverhältnis verändert. China hat mit seinen mehr als 1,3 Milliarden Menschen einen gewaltigen Sprung nach vorn gemacht und sich zu einem ernsthaften Konkurrenten der USA entwickelt. Die USA haben an Einfluss und Autorität verloren, sind aber in technologischer und militärischer Hinsicht die stärkste Macht geblieben – und wollen das auch bleiben. Die geopolitische Rivalität wird damit auf einem technologisch höheren Niveau ausgetragen. Das hat auch Konsequenzen für eine eventuelle militärische Auseinandersetzung. Die Welt ist damit insgesamt verletzbarer geworden. Sie ist nicht mehr kriegstauglich. Zumindest nicht für große Kriege.
Man hat den Eindruck, dass diese neue Qualität der Staatenwelt und ihrer wechselseitigen Beziehungen dem Autor des Buches nicht voll bewusst sind. Verletzlichkeit und Zerstörungspotenzial dieser Welt stehen in einem diametralen Verhältnis. Auch die Möglichkeiten für destruktives Einwirken auf einen potenziellen Gegner sind in neuen Dimensionen gewachsen. Automatisierung und Digitalisierung haben dazu geführt, dass militärische Entscheidungen und Handlungen – im nuklearen wie im konventionellen Bereich – in immer kürzerer Zeit möglich sind und der Spielraum für politische Entscheidungen immer geringer geworden ist. Durch die Einbeziehung des Weltraums und des Cyberspace in das Aktionsfeld der Konfrontation hat sich das Kriegsbild insgesamt verändert. Die Auswirkungen sind komplexer und vielfältiger als je zuvor. Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden, zwischen Front und Hinterland verwischen sich immer mehr. Konfrontative Machtpolitik – ob mit „sanfter“ oder“ harter“ Gewalt – hat in den letzten 30 Jahren einen qualitativ neuen Grad der Eskalationsstufen und der Eskalationsgeschwindigkeit erhalten. Und das angesichts des fast völligen Zusammenbruchs des internationalen Systems der Rüstungskontrolle. Die Dominanz des militärischen Denkens in der Sicherheitspolitik ist selbst zu einem Risikofaktor geworden.
Hier wird ein Defizit dieses gut geschriebenen Buches deutlich: Wer heute über Auftrag und Fähigkeiten von Streitkräften nachdenkt, von dem wird auch erwartet, etwas darüber zu sagen, wie eine Eskalation zum heißen Krieg verhindert werden kann. Während der Blockkonfrontation galt für die NATO seit dem Harmel-Bericht von 1967 das Prinzip der Doppelstrategie von Dialog und Abschreckung. Heute ist von Dialog keine Rede mehr. Auch nicht in dem Buch von Wilfried von Bredow. Aber die Abschreckung ist fragiler denn je. Nur mit dem großen Knüppel drohen, ist keine Gesamtstrategie.
Dieses Buch macht besorgt und nachdenklich zugleich: Was tut man mit Streitkräften in einer hochgerüsteten Welt, in der die Streitkräfte selbst zu einem Sicherheitsrisiko geworden sind und Sicherheit nicht mehr gegeneinander gewährleistet werden kann? Die Corona-Krise ist eigentlich der letzte Anstoß um zu begreifen, dass die existenziellen Probleme dieser Welt nur noch in weltweiter Kooperation zu lösen sind.
Insofern sind Auftrag und Rolle der Bundeswehr nicht diskutierbar als ein Problem für sich. Es kann nur um eine Gesamtstrategie der deutschen und europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gehen, die der Kriegsverhinderung oberste Priorität gibt. Dabei sind Streitkräfte eine gesellschaftliche Realität, die durch Wunschdenken nicht zu beseitigen ist. Ziel dieser neuen Sicherheitsstrategie müsste es aber sein, der Diplomatie und dem Dialog auf der Basis des Prinzips der Gleichberechtigung und Nichteinmischung sowie der Berücksichtigung anderer Wertvorstellungen und Interessen Priorität einzuräumen – ein Prozess, in dem Streitkräfte ihre dominierende Position schrittweise verlieren könnten.
Vielleicht lässt sich der Autor überreden, eine Fortsetzung seines Buches zu schreiben, die diesen Anforderungen gerecht wird. Auf jeden Fall kann das Buch dazu beitragen, eine Debatte anzustoßen, an der alle Parteien sowie breite gesellschaftliche Kräfte mitwirken, um die Frage zu lösen, wie die EU und Deutschland in der zunehmend konfrontativen Beziehung zwischen den USA und China sowie Russland eine vermittelnde und deeskalierende Rolle einnehmen können. Das entspräche dem traditionellen und historisch gewachsenen Sicherheitsverständnis der alten Bundesrepublik sowie der Stimmung der deutschen Bevölkerung am ehesten.
Wilfried von Bredow: Armee ohne Auftrag. Die Bundeswehr und die deutsche Sicherheitspolitik, Orell Fuessli Verlag, Zürich 2020, 200 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Bundeswehr, Globalisierung, Sicherheitspolitik, Wilfried Schreiber, Wilfried von Bredow