24. Jahrgang | Nummer 5 | 1. März 2021

Stefan Zweig und das Judentum

von Mathias Iven

Obwohl beide Elternteile aus jüdischen Familien stammten, spielte das Judentum im Hause Zweig nur eine untergeordnete Rolle. Zwar beschäftigte sich Stefan Zweig am Ende seiner Schulzeit mit den Ideen des von Theodor Herzl propagierten politischen Zionismus und griff auch in einigen seiner frühen Werke jüdische Themen auf, doch letztendlich konnte er sich nicht für den Gedanken einer nationalen Wiederbelebung des Judentums in Palästina begeistern. Und auch das zu dieser Zeit erwachende Interesse, das Zweig der jung-jüdischen Bewegung um Martin Buber entgegenbrachte, war nicht von Dauer.

Welche Stellung Stefan Zweig zum Judentum hatte, welche Entwicklungen es in seinem Denken gab und wie er sich dazu in der Öffentlichkeit äußerte, dokumentieren zwei unlängst veröffentlichte Bücher.

Da ist zum einen der auf akribischen Recherchen basierende, von Stefan Litt vorgelegte Band Briefe zum Judentum. Schätzungen gehen davon aus, dass die Korrespondenz von Zweig circa 25.000 Briefe und Postkarten umfasst, wovon nur rund 1000 Schreiben bisher veröffentlicht wurden. Litt, der an der National Library of Israel für die deutschsprachigen Nachlässe und Sammlungen verantwortlich ist, kam im Zuge seiner Nachforschungen zu dem Ergebnis, dass Zweigs Briefe zum Thema Judentum weniger als ein Prozent seiner angenommenen Gesamtkorrespondenz ausmachen. Aus diesem überschaubaren Konvolut hat er 120 Stücke ausgewählt. Geschrieben wurden sie zwischen 1900 und 1941, mehr als die Hälfte wird erstmals veröffentlicht.

Er verstehe das Judentum, so äußerte sich Zweig im Dezember 1913 gegenüber seinem Schriftstellerkollegen Marek Scherlag, „nur als Gefühlstatsache, als formlose, grenzenlose und unabgrenzbare: ich spüre, dass wir jeder damit etwas anderes meinen und jeder nur das, was er davon ist“. Martin Buber erklärte er, dass er sich das Judentum nie „als Kerker der Empfindung wählen möchte […] Es belastet das Judesein mich nicht, es begeistert mich nicht, es quält mich nicht und sondert mich nicht“. Die Größe des Judentums sei es, hieß es in einem Brief an Abraham Schwadron, „übernational zu sein“. Und 1920 formulierte er, die politische Aufgabe des Jüdischen bestehe darin, „den Nationalismus zu entwurzeln in allen Ländern, um so die Bindung im reinen Geiste herbeizuführen“.

Die Briefe der Jahre 1933 bis 1941 machen mehr als die Hälfte des Buches aus. Stefan Litt schreibt dazu in seinem Kommentar: „Seit dem ,Anschluss‘ Österreichs 1938 und noch mehr nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entwickelte Zweig viel Empathie für die Juden unter der deutschen Besatzung.“ Unter anderem plante er eine gemeinsame Aktion gegen die antisemitischen Ausschreitungen der NS-Führung. Im Zusammenhang damit wandte sich Zweig im Mai 1933 an Felix Salten: „Ich glaube, wir deutschen Schriftsteller jüdischer Rasse sollten jetzt gemeinsam ein Manifest verfassen, ein Manifest an die Deutschen und an die Welt, indem wir nicht wehleidig über Unrecht klagen, nicht kleinmütig jammern, nicht gegen Deutschland sprechen, sondern einfach unsere Situation darstellen.“ Doch so einfach war es nicht. Bereits eine Woche später klagte er, „jeder [will] seine Klausel und es scheint wirklich leichter, einen Sack Flöhe unter einen Hut zu bringen als zwölf oder zwanzig Schriftsteller zu einer Textierung“. Am Ende scheiterte die Aktion, denn niemand schien bedacht zu haben, wie Zweig dem Schriftsteller Josef Leftwich auseinandersetzte, dass „die in Deutschland zurückgebliebenen Juden […] gewissermaßen Geiseln dar[stellten], und jede Unternehmung unsererseits, die wir noch frei sind, würde an diesen Wehrlosen gerächt werden“.

Der zweite, hier anzuzeigende Band versammelt vorwiegend unveröffentlichte oder schwer zugängliche Texte Zweigs zu Politik und Zeitgeschehen aus den Jahren 1916 bis 1941. Ein Großteil der von dem Germanisten Stephan Resch zusammengestellten Artikel und Interviews führt die im brieflichen Dialog zur Rolle der Juden und zur Bedeutung ihrer Religion geäußerten Überlegungen fort. Dass es dabei auch zu frappanten Fehleinschätzungen kam, zeigen Äußerungen in einem Interview vom April 1932. Auf die Frage der amerikanisch-jüdischen Zeitung The American Hebrew, wie es um den Antisemitismus bestellt sei, antwortete Zweig: „Ich glaube […], dass der Antisemitismus […] zwangsläufig zerfallen wird. Ich bin optimistisch, was die Zivilisation und die Menschheit betrifft. Ich glaube, dass wir älter und reifer werden und dass daher Rassenvorurteile nur eine kleine Rolle bei den globalen Problemen spielen werden.“

Nur kurze Zeit darauf war es Zweig nicht mehr möglich, die Gefahren des von den Nationalsozialisten offen propagierten Antisemitismus zu ignorieren. Dennoch forderte er eine abwartende Besonnenheit. Im August 1933 schrieb er an Romain Rolland: „Wenn wir sprechen, schlägt man mit einer bis heute ungekannten Brutalität auf [die Juden] ein. Hat also einer, der seine persönliche Freiheit genießt, das Recht, denen zu schaden, die im Kerker sitzen?“ Solcherart passiv-akzeptierende Haltung vertrat Zweig auch im Rahmen eines von der jiddischen Zeitschrift Das Freie Wort 1934 in London organisierten Symposiums. Dort sprach er sich für „eine neue Form des Glaubens“ aus, basierend auf der „ehrliche[n] Erkenntnis, dass diese immer erneuten Prüfungen zu unserem Schicksal gehören und das, was wir sind, wir nur durch dieses Leiden geworden sind“. Und wenige Monate vor den Novemberpogromen des Jahres 1938 veröffentlichte er in der Londoner Zeitschrift Query einen Artikel mit der Überschrift „Keep Out of Politics“, in dem er die Juden in politischen Führungspositionen zur Zurückhaltung aufforderte, um den Nationalsozialisten keinerlei Vorwand für weitere Repressalien zu geben.

In welch widersprüchlicher Situation sich der multinational denkende Europäer Stefan Zweig in all diesen Jahren befand, verdeutlicht ein Anfang 1935 aufgezeichnetes Interview mit einem Reporter des Jewish Daily Bulletin. Unumwunden hatte Zweig darin erklärt: „Ich würde niemals gegen Deutschland sprechen. Ich würde niemals gegen ein Land sprechen. Ich mache keine Unterschiede.“ Und bereits früher Gesagtes wiederholend hieß es abschließend: „Ich hasse alle Arten von Nationalismus. Ich möchte nicht, dass die Juden Nationalisten werden.“

Den beiden Herausgebern gebührt nicht nur Dank dafür, dass sie Stefan Zweig als scharfsichtigen Beobachter gesellschaftlicher Veränderungen zeigen. Mit den jetzt vorliegenden Bänden – die man unbedingt parallel lesen sollte! – wird vor allem das immer noch im Raum stehende Argument vom „unpolitischen“ Zweig entkräftet und weitergehenden Forschungen ein neues Feld eröffnet.

Stefan Zweig: Briefe zum Judentum (hrsg. von Stefan Litt), Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 295 Seiten, 24,00 Euro.

Stefan Zweig: „Worte haben keine Macht mehr“. Essays zu Politik und Zeitgeschehen 1916-1941 (hrsg. von Stephan Resch), Sonderzahl Verlagsgesellschaft, Wien 2019, 272 Seiten, 28,00 Euro.