24. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2021

DDR autobiografisch

von Roman Herzog

Längst ist es an der Zeit, Lebensgeschichten in der DDR und die Realitäten des verblichenen Staates komplexer zu betrachten – und nicht einseitig aus der Perspektive vermeintlicher Gewinner, die letztlich immer noch der Ordnung des Kalten Krieges folgt. Bemerkenswert ist daher das Bestreben des Lukas Verlags, in seiner Reihe „Lebenswege in der DDR“ andere Perspektiven zu eröffnen. Nachdem der erste Band der Reihe 2019 die Erinnerungen zweier Außenhändler, eines Biologen und des bekannten Musikers Bernd Wefelmeyer versammelt hatte, präsentiert Herausgeberin Francisca Drechsler im zweiten Band die Biografie des Kunsthistorikers Heinz Schönemann, ehemals einer der jüngsten Museumsdirektoren der DDR, und lässt auf gut 100 äußerst lesenswerten Seiten den widerständigen Theatermenschen Horst Ruprecht zu Wort kommen. Der Schauspieler und Regisseur erzählt seine eigene Geschichte denn auch in der ersten Person, als Autobiografie also. Und die liest sich als wohltuender Kontrapunkt zum vereinfachenden innerdeutschen Diskurs. Ruprecht stellt klar, dass die Einteilung in Wendegewinner und -verlierer den Kern nicht trifft. Vielmehr geht es ihm um politische und persönliche Integrität. Statt eigene Ideale zu leugnen, steht Ruprecht bis heute trotz aller Fehlschläge dafür ein, eine gerechtere Gesellschaft anzustreben. Davon haben sich viele andere im Ringen um einen Gewinnerplatz längst verabschiedet.

Der 1938 in Teplitz (ČSR) geborene Ruprecht gibt in seiner Lebenserzählung interessante und gut formulierte Einblicke in den Theaterbetrieb und den politischen Alltag der DDR in den vier Jahrzehnten ihres Bestehens. Er macht Geschichte buchstäblich lebendig. Denn Ruprecht zeigt immer wieder, wie es möglich war, an entscheidenden Stellen auch Nein zu sagen und sich zu verweigern, teils offen, teils geschickt ironisch, eulenspiegelhaft. Der Schalk Ruprecht hat sich mit dieser Haltung in der DDR eine größere Karriere verhagelt. Er lehnte oft ab, wenn „die Partei“ Änderungswünsche an seine zumeist satirisch grotesken Inszenierungen anmeldete. Die setzten immer darauf, dass das Publikum mündig, also in der Lage ist, selbst zu denken und Schlüsse zu ziehen.

Denn gegen paternalistisch vorgekaute Interpretationen und propagandistische Plattheiten baute Ruprecht auf die Kraft der Texte wenig bekannter oder vernachlässigter Autoren, etwa Christian Dietrich Grabbe aus der Zeit des Vormärz oder Ödön von Horváth, der 1938 im Pariser Exil verunglückte. Und immer wieder auch auf Autoren aus dem Westen. Der Theatermacher entwickelte einen kraftvollen, sehr persönlichen Inszenierungsstil, der auf Spektakel, Satire und Unterhaltung mit Inhalt und Niveau setzte. So erreichte er in den Häusern in Nordhausen, Meiningen, Halle, Erfurt, Weimar und Magdeburg, ob als Oberspielleiter, Schauspieldirektor oder Regisseur, ein breites Publikum. Vielleicht war Ruprecht genau deswegen der Staats- und Parteiführung ein Dorn im Auge. Wie weitgehend er von der „Firma“ überwacht wurde, kam ihm erst bei der Lektüre seiner Stasiakte vor Augen, bei der er – so erstaunlich das bei diesem Realismus-erprobten Menschen scheint – förmlich erblasste.

Ruprecht spricht sehr bescheiden davon, wie er oft aus purem Glück um strengere Maßregelungen herumkam. Dabei wurden ihm bereits nach dem Prager Frühling antisozialistische Tendenzen unterstellt. Wiederholt wurden seine Stücke abgesetzt, in den 70er Jahren etwa „Jutta oder die Kinder von Damutz“ nach Helmut Bez, weil er Eingriffe der Partei zurückwies. Dennoch wird in Ruprechts Erzählung deutlich, wie viel größer als oftmals dargestellt die Spielräume waren. Nur wurden sie in vorauseilendem Gehorsam weit seltener genutzt als möglich.

Nein, die DDR war keine monolithische Diktatur, wie heute meist behauptet. Es waren gerade die Feinheiten, kleine Spielräume und Widersprüche, die das Geschehen charakterisierten. Die vielleicht illusorische, aber doch reale Vorstellung der Teilhabe und des Verändern-Wollens war es, die zahlreiche Künstler antrieb und von einer Ausreise auch nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns abhielt. Dass Horst Ruprecht nach der „Wende“ und nach erfolgreichen Inszenierungen in Salzburg und Wien zum Opfer politischer Intrigen um die Intendanz des Schauspiels Leipzig wurde und sich ausgerechnet gegen einen vormals linientreuen Opportunisten ausgespielt sah, ist die bittere Ironie dieser persönlichen Gesellschaftsbiografie. Doch ließ er sich auch in diesem Fall nicht brechen, sondern inszenierte kompromisslos und erfolgreich weiter an den Landestheatern der neuen Republik, weiterhin ohne Kotau.

Ob sich Menschen als gescheitert oder gebrochen, als erfolgreich oder integer begreifen, ist eine Frage der Aufrichtigkeit, der Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Ruprechts Beispiel zeigt, dass in der DDR bis in die 80er Jahre sehr viel mehr möglich war, dass viele Chancen ungenutzt verstrichen. Ohne diesen Aspekt ist die Realität der DDR und ihres Zerfalls nicht zu begreifen. In diesem Sinne ist auch dieses Buch eine wohltuende Korrektur der herrschenden Meinung. Ruprechts Lebensgeschichte sind zahlreiche, vor allem junge Leser und Leserinnen zu wünschen.

Horst Ruprecht: Spiele der Macht haben mich immer interessiert – Lebensweg eines deutschen Theaterregisseurs und Ensembleleiters. In: Francisca Drechsler (Hg.): Zwischen Pflicht und Freiheit (2). Lebenswege in der DDR. Lukas Verlag, Berlin 2020,248 Seiten, 19,80 Euro.