Bisher wenig beachtet, steht ein weiteres Rüstungskontrollabkommen auf der Kippe; die Internationale Konvention zum Verbot chemischer Waffen.
Scharfe Konflikte und Auseinandersetzungen prägten die 25. Konferenz der Mitgliedstaaten dieser Konvention vom 30. November bis zum 2. Dezember. Gestritten wurde über die Rolle und Aufgaben der Überwachungsorganisation (OPCW), über Chemiewaffeneinsätze in Syrien und auch über den „Fall Nawalny“, wobei sich immer größere Gegensätze zwischen den Positionen westlicher Staaten einerseits und andererseits Russland, aber auch China zeigten. Russland beklagte die Instrumentalisierung und Politisierung der OPCW, westliche Staaten hielten das für russische Ablenkungsmanöver und Desinformationsbemühungen, und beschuldigten Russland, die Chemiewaffenkonvention zu unterminieren.
Eine Staatenmehrheit macht sich deshalb inzwischen Sorgen um den Zustand der OPCW und brachte das auch zum Ausdruck. Die Afrikanische Union (52 Mitglieder) appellierte daran, im Geiste des Dialogs und der Kooperation zu agieren. Die nicht paktgebundene Bewegung (NAM), die 120 Staaten umfasst, sowie China wandten sich ausdrücklich gegen eine „Polarisierung und Politisierung“ der OPCW.
Beide Staatengruppen sprachen zudem zwei weitere politische Fragen an, die weder in den Erklärungen der EU noch der USA eine Rolle spielten.
Erstens erinnerten sie an das Ziel, dass alle Staaten der Welt der Konvention angehören sollten. Tatsächlich haben drei die Konvention bisher nicht unterzeichnet: Ägypten, Nordkorea und Südsudan. Ein vierter Staat, Israel, unterschrieb zwar 1993, aber ratifizierte nicht. Auf der diesjährigen Konferenz sprach ein Vertreter Israels. Er erklärte, dass sein Land die Ziele und Werte der OPCW unterstütze und forderte die drei Nichtunterzeichnerstaaten auf, dem israelischen Beispiel zu folgen. Er gab allerdings keine Versicherung ab, dass Israel demnächst die Konvention ratifizieren werde.
Zweitens forderten sie die USA auf, ihre noch verbliebenen Chemiewaffen nunmehr zügig zu eliminieren. (Im Hinblick auf Russland gründet sich die Berichterstattung der OPCW nach wie vor auf die Feststellung, dass Russland seine Chemiewaffenbestände 2017 abbaute. Nach den US-Planungen soll die Abschaffung aller Chemiewaffen 2023 vollzogen sein. Auf der Konferenz schwieg sich der US-Vertreter jedoch zu diesem Thema aus. Er erklärte weder, dass die Vernichtung der Chemiewaffenvorräte planmäßig vonstattenginge, noch dass sie 2023 abgeschlossen werde. Aufgrund von Wikileaks-Dokumenten ist bekannt, dass die USA es nicht schätzen, wenn dieses Thema Erwähnung findet.
Einig waren sich alle Konferenzteilnehmer darin, dass der Einsatz von Chemiewaffen ebenso wie die Nutzung verbotener giftiger Substanzen zu Attentatszwecken grundsätzlich geächtet ist und Verstöße bestraft werden müssen. Eine Gruppe von 58 Staaten, einschließlich der EU-Mitglieder, verurteilte den Anschlag auf den russischen Oppositionellen Nawalny scharf und stellte fest, dass jeder Anschlag mit einem Nervengift eine Chemiewaffennutzung darstelle. Diese Gruppe wies allerdings nicht ausdrücklich Russland die Verantwortung für diesen Anschlag zu. Die EU-Stellungnahme hingegen enthielt eine Unterrichtung darüber, dass die EU Sanktionen gegen sechs russische Personen und eine russische Institution erlassen habe. Die USA wiederum erklärten frank und frei, sie glaubten, der russischen Inlandsgeheimdienst FSB habe Nawalny vergiftet. (Im Skripal-Fall war dem russischen Militärgeheimdienst GRU die Verantwortung zugeschrieben worden.). Es sei „faktisch unbestreitbar“, so der US-Vertreter weiter, dass Nawalny auf russischem Boden mit einem „Nervengift aus einer Gruppe von Chemiewaffen, den Nowitschoks, […] die nur Russland hat und nutzt“, vergiftet worden sei. Alle russische Widerrede sei Desinformation. Schließlich forderte er Russland auf, „in den Kreis der verantwortungsvoll handelnden Nationen zurückzukehren“, sein „Nowitschok“-Programm „zu deklarieren und zu vernichten“.
Russland wiederum wies alle Beschuldigungen zurück und warf seinerseits Deutschland vor, die Regeln der OPCW zu missachten und überdies den gestellten Rechtshilfeersuchen nicht nachzukommen.
Bereits im Skripal-Fall war ein Dissens um die Rolle der OPCW offenbar geworden.
Damals hatte Großbritannien die OPCW lediglich um technische Hilfe zur Validierung nationaler Laborergebnisse ersucht. Russland war mit dem Vorschlag, die OPCW nach Artikel IX der Chemiewaffenkonvention mit dem Fall zu befassen, gescheitert. Dieser Artikel sieht Zusammenarbeit und Informationsaustausch in Streitfragen vor, was damals von westlichen Staaten abgelehnt wurde.
Der Grund dafür war, dass sich die westlichen Staaten frühzeitig politisch auf die Schuld Russlands am Attentat auf die Skripals festgelegt hatten – mangels einer anderen plausiblen Erklärung. Tatsächlich verschlossen sie damit aber auch die Tür, durch Verdachtsinspektionen in Russland eindeutige Beweise für ihre politische Haltung zu erbringen. Das wiederholt sich nun im „Fall Nawalny“, nur dass es diesmal die Bundesregierung war, die eine Schuld Russlands für die plausibelste Erklärung hielt, die technische Hilfe der OPCW in Anspruch nahm und die EU zu Sanktionen drängte, die im Oktober beschlossen wurden.
Die Folge dieses Vorgehens in beiden Fällen besteht darin, dass politisch festgestellte „Plausibilitäten“ ohne konkrete Sachverhaltsprüfung zum unumstößlichen Schuldspruch entarten. Praktisch wurde damit Russland jede Grundlage entzogen, sich zu verteidigen, und gleichzeitig wurden alle OPCW-Mitgliedstaaten, die nicht dem westlichen Bündnis angehören, der Möglichkeit beraubt, sich im Rahmen der OPCW faktenbasiert ein eigenes Urteil darüber zu bilden, ob und in welchem Ausmaß Russland die Chemiewaffenkonvention verletzt.
Weiterhin hat die Fokussierung auf die mutmaßliche Schuld der russischen Regierung dazu geführt, dass die jahrelange flagrante Verletzung der Konvention durch alle führenden Chemiewaffenmächte, einschließlich der westlichen, aus der öffentlichen Debatte herausgehalten wurde. „Nowitschoks“ werden seit langem erforscht, bis 2018 hinter dem Rücken der OPCW. Aber nach wie vor wird so getan, als wäre die historische Herkunft von „Nowitschoks“ – entwickelt in der Sowjetunion – heute ein Beleg russischer Schuld. Eine polnische Studie („Novichoks – ‚A‘ – codename Nerve Agents group & general CBRN considerations“) vom März 2020, die sich ausschließlich auf öffentlich zugängliche Literatur gründete, kam zu dem Schluss, dass vor dem Attentat auf die Skripals bis zu 18 Chemikalien unter dem Namen „Nowitschok“ in westlichen Patenten und Forschungsarbeiten auftauchten, was aus Sicht des Autors, Marcin Kloske, etwa 300 bis 400 verschiedene „Nowitschok-Verbindungen“ bedeuten könnte. Aufgrund dieser Studie wird auch deutlich, dass sich die westlichen Vorschläge von 2019 zur Aufnahme von „Nowitschoks“ in die Verbotsliste der OPCW auf die sogenannten Gifte der A-Serie beschränkten, die 1995, respektive 1997 öffentlich bekannt geworden waren. Ein russischer Vorschlag hingegen, der zunächst abgewiesen wurde, enthielt andere „Nowitschok“-Gifte, die öffentlich weit weniger bekannt, aber in der westlichen Fachliteratur bereits aufgetaucht waren. Beide Vorschläge wurden schließlich im November 2019 von der OPCW angenommen. Die Studie von Kloske legt zudem die Vermutung nahe, dass die OPCW-Verbotsliste zu „Nowitschoks“ auch danach noch unvollständig sein könnte.
Während der Skripal-Fall zur Verdächtigung Russlands durch Großbritannien führte, ein geheimes militärisches Trainingsprogramm zu haben, mit dem die Ermordung von Gegnern mittels „Nowitschok“-Giften geübt wird, hat der „Nawalny-Fall“ nunmehr dazu geführt, dass die russische Regierung nicht nur verdächtig ist, verbotene chemische Substanzen zu Attentatszwecken einzusetzen, sondern auch ein geheimes Chemiewaffenprogramm zu unterhalten. Gleichzeitig unternimmt die westliche Politik jedoch keine Schritte, um im Rahmen der OPCW dafür den Nachweis (oder den Erweis des Gegenteils) zu führen.
Das ist eine äußerst gefährliche Politik. Solange der Dissens nicht durch harte Fakten aufgelöst wird, bleibt die Versuchung bestehen, „zur Verteidigung“ gegen gemutmaßte russische Chemiewaffen eigene Chemiewaffen vorzuhalten. Das könnte den Prozess der vollständigen Vernichtung der C-Waffen in den USA zum Erliegen bringen. Das Schicksal des INF-Vertrags hat gezeigt, dass Misstrauen auch das solideste Vertragswerk sprengen kann.
Die deutsche Politik ist dafür mitverantwortlich. Die Schnelligkeit, mit der sie zu einer Schuldzuweisung im „Nawalny-Fall“ kam, steht in eklatantem Widerspruch zum Desinteresse an den Fakten des Falls. Tatsächlich hat sich die Bundesregierung vollständig die Vergiftungsbehauptung des Teams von Nawalny zu eigen gemacht, obwohl keine von dessen beiden Versionen (Vergiftung durch Tee auf dem Flughafen, Vergiftung bereits im Hotelzimmer) konsistent ist mit den Wirkungen von Nervengiften im Allgemeinen und der von Giften der „Nowitschok“-Gruppe im Einzelnen.
Das war bereits das Markenzeichen des Skripal-Falls.
Leider unterstützen, wie schon im Skripal-Fall, allzu viele Medien die Beschuldigungen des Westens ungeprüft. Das ist unzweifelhaft dem sich immer mehr verschärfenden Konflikt mit Russland geschuldet. Er hat zu einem Klima geführt, in dem sich die allermeisten hüten, auch nur Fragen zu stellen, um ja nicht „russischen Narrativen“ Vorschub zu leisten oder als Kreml-Troll zu gelten. Unter diesen Bedingungen ist man schon dankbar, wenn der ehemalige BND-Chef Gerhard Schindler dem Eindruck widerspricht, der BND wüsste im „Fall Nawalny“ genau Bescheid.
Schlagwörter: Chemiewaffen, Chemiewaffenkonvention, OPCW, Petra Erler