24. Jahrgang | Nummer 1 | 4. Januar 2021

Setzen und Wählen in Russland

von Klaus Joachim Herrmann

Russland ist in das Wahljahr 2021 eingetreten. Formiert werden soll bis zum Herbst eine neue Staatsduma. Wahlen stehen auch den Chefs von neun Subjekten der Föderation und den Deputierten der Parlamente in 39 Regionen bevor. Niemand rechnet freilich bei den Urnengängen mit solchen Turbulenzen, wie sie die Welt in den USA beim Streit um das Präsidentenamt bestaunen durfte. Ähnliches wäre auch nicht zu erwarten, sollte es in diesem Jahr bereits um den Hausherrn des Kremls gehen. Der steht erst 2024 auf der Tagesordnung.

Derweil sich der US-Präsident nicht traut, nach seiner Abwahl aus dem Weißen Haus auszuziehen, sorgte sein russischer Amtskollege im Kreml vor. Im Gegensatz zu Donald Trump, der einen bunten Strauß von Anklagen fürchten muss, sicherte sich Wladimir Putin klüglich ab. Sein Vorgänger Boris Jelzin musste sich vor gut zwei Jahrzehnten noch auf seinen Nachfolger verlassen, um seiner Strafverfolgung und der seiner Familie zu entgehen. Der enttäuschte ihn nicht, wessen man sich jedoch nicht immer gewiss sein kann. Unsicherem Wohlwollen möchte sich Putin seinerseits nicht anvertrauen.

Im Gefolge der Überarbeitung der Verfassung wurde nun ein Gesetz nachgeschoben, das früheren Präsidenten ein Mandat im Föderationsrat auf Lebenszeit sichert. Putin ist also für das Oberhaus, in das die regionalen Parlamente und Regierungen der Föderation je einen Vertreter entsenden, gesetzt. Das sichert ihm und seiner Familie nach der präsidialen Amtszeit Immunität. Wege bis zu den höchsten Instanzen und notwendige Zwei-Drittel-Mehrheiten, um ihn für eventuelle Staatsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen, erscheinen als höchstens theoretisch überwindbare Hürden.

Der amtierende Kremlchef wappnet sich auch auf andere Weise für die Zukunft. Er beschwor das Volk, dass Russland in seiner Geschichte nie jemand geholfen habe und dies auch künftig niemand tun werde. So müsse man sich auf sich selbst verlassen. Putin setzt folgerichtig auch auf sich selbst. Er präsentierte sich zum Feier-„Tag der Volkseineinheit“ am 4. November mit einer Art interkonfessioneller Predigt quasi als Übervater. „Das Wichtigste für uns ist der absolute Wert eines jeden Menschenlebens“, sagte Putin. „Und diese Entscheidung ist in einem gewaltigen Maße durch jene Werte bestimmt worden, die allen traditionellen Religionen Russlands zugrunde liegen. Dies sind das orthodoxe Christentum, die anderen christlichen Konfessionen, der Islam, der Buddhismus und der Judaismus.“

Die Njesawissimaja Gasjeta vermerkte, Putin versuche „jenes Gleichgewicht zu sondieren, das erlaubt, gleichzeitig sowohl einen konservativen Kurs zu verfolgen als auch sich an eine Glaubenstoleranz in den besten, bisher nicht gesehenen Formen eines aufgeklärten Absolutismus zu halten“. Aufmerksamkeit wecke seine Tendenz, „praktisch die Mission eines geistigen Führers der Nation zu übernehmen. Aber außerhalb einer konkreten Religion“. Dies ließe sich als Fingerzeig verstehen, welche Rolle der Staatschef künftig für sich selbst auserkoren haben mag. Die wäre von Wahlen unabhängig.

Anders ergeht es der zwar größten, aber durchaus nicht zwangsläufig beliebtesten Kremlpartei Einiges Russland. Sie muss sich für das parlamentarische Unterhaus, die Staatsduma, bei der Wahl um das „bestmögliche Resultat“ mühen. Diesen klaren Kampfauftrag an die „Partei der Macht“ richtete Präsidentensprecher Dmitri Peskow aus. Als Staatsangestellter befasse er sich zwar nicht mit Parteiarbeit, könne sich für sie aber kein anderes Ziel vorstellen. Schon ist – ordentlich nach Recht und Gesetz – Erleichterung gewährt. Als Chefin der Zentralen Wahlkommission verkündete Ella Pamfilowa, dass mit der Kremlpartei gemeinsam insgesamt 16 Parteien von der Sammlung von Unterschriften zur Wahlteilnahme befreit seien. Die anderen müssen 200.000 Signaturen vorweisen.

Die vier „System-Parteien“ im Parlament – Einiges Russland, Kommunistische Partei der Russischen Föderation, Liberal Demokratische Partei und Gerechtes Russland – sind mit einem potentiellen Wählerreservoir von 62 Prozent ausgestattet. Aber die „systemische Opposition“ ist mittlerweile nicht nur politisch in die Jahre gekommen. KP-Langzeitchef Gennadi Sjuganow zählt inzwischen 76 Jahre, der vorgeblich liberale, de facto aber rechts außen platzierte Ultranationalist Wladimir Schirinowski 74 Jahre. Wenn sie auch in den USA anscheinend im  besten Präsidentenalter wären, stehen sie wohl doch nicht mehr so sehr für eine lichte Zukunft.

Für die kleineren und nicht im Parlament vertretenen Parteien haben laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes WZIOM nur rund 16 Prozent der Wähler etwas übrig. Die könnten vielleicht den Gruppierungen Neue Menschen, Partei der Rentner für soziale Gerechtigkeit und den Liberalen von Jabloko über die Fünf-Prozent-Barriere ins Hohe Haus verhelfen. Letzteren wurde allerdings auch die größte Ablehnung bescheinigt, 40 Prozent der Befragten würden unter keinen Umständen für sie votieren. Da ging es der Grünen Alternative mit 17 Prozent Missgunst schon fast komfortabel.

Auffällig bodenständig agiert die kommunistische Opposition. Sie trifft sich mit ihren Wählern direkt vor den Toren des Parlamentes, um gegen die Annahme des Haushaltes zu agitieren. Der Etat sehe keine Maßnahmen gegen die demografische Krise und die Armut vor, würde nicht das wirtschaftliche Wachstum gewährleisten. Öffentlich diskutiert wird mit erbosten Eltern der Fernunterricht für Schüler wegen Corona. Wiederholte Ermahnungen oder Drohungen, ihre Aktivitäten verstießen gegen Auflagen im Kampf gegen die Pandemie, kontern die Kommunisten. Sie verweisen auf ein Gesetz, das Deputierte mindestens einmal im halben Jahr zu Treffen mit Wählern verpflichtet – darunter ausdrücklich auch zu öffentlichen Begegnungen. Die seien, so der kommunistische Anwalt Dmitri Agranowski, „sicher, notwendig und konstruktiv“.

Gewisser Aufschluss über das Protestpotential ist Ende Februar in Moskau zu erwarten. Ein „Marsch des Gedenkens“ dürfte dem am 27. Februar 2015 unweit des Kreml ermordeten Oppositionspolitiker Boris Nemzow gelten. Zum fünften Jahrestag seines Todes wurden im Vorjahr mehr als 20.000 Teilnehmer des Trauer- und Protestzuges allein in der Hauptstadt gezählt. An Losungen wie „Veränderung!“, „Freiheit den politischen Gefangenen“, „Russland wird frei sein“ oder „Die Macht muss vom Volk kontrolliert werden“ wird es auch in diesem Jahr gewiss nicht fehlen.

Staatspräsident Putin gab sich in einem TASS-Interview gegenüber „nichtsystemischer Opposition“ demonstrativ großzügig. Sie leiste einen „nützlichen Beitrag zum Leben des Landes“, Beschränkungen gebe es nur durch die Gesetze. Mit denen allerdings hatten der prominente Oppositionelle Alexej Nawalny und manche andere schon zu tun. Ihnen dürfte deswegen Putins Aufforderung seltsam aufstoßen: Ihr wollt eure Meinung öffentlich kundtun? „Bitte sehr, das Gesetz erlaubt es. Holt eine Erlaubnis und tut es.“

Ein neues Gesetz will das Verfahren aber alles andere als erleichtern. Faktisch werde das Prinzip der Information über friedliche Aktionen durch notwendige Genehmigungen mit ausgeklügeltem Kleingedruckten ersetzt, klagen dessen Kritiker. Nichtregierungsorganisationen, die – wie die Menschenrechtler von Memorial – unter die herabsetzende Rubrik „ausländische Agenten“ sortiert werden, könnte die vollständige Kontrolle durch die Justiz und allzeit Liquidierung drohen. „Ein beispielloser Angriff auf unsere Bürger- und politischen Rechte“, titelte die Wirtschaftszeitung Kommersant.

Mit all dem hat der Wahlkampf längst begonnen. Die kritische Obschtschaja Gasjeta vermerkt einen Vertrauenszuwachs für Nawalny. Von Platz neun auf Platz vier der beliebtesten Politiker sei der Oppositionelle aufgerückt. Vor ihm lägen nur noch Präsident Putin, Außenminister Sergej Lawrow und Rechtsaußen Schirinowski, habe die Forschungsholding Romir ermittelt. Die Zeitung selbst vermutet als Ursache des Aufschwungs die spektakuläre Vergiftung des Politikers: „Sie hat große gesellschaftliche Resonanz gefunden.“

Diesen „Fall Nawalny“ und den Umgang damit sieht Konstantin Remtschukow, Chefredakteur der Njesawissimaja Gasjeta, in einem größeren Zusammenhang. Das sei ein entschiedener Schritt zum Kalten Krieg. „Das ist die Vereinfachung des Kurses auf Isolationismus, unabhängig davon, wer wo gewählt wird – ich meine in Amerika, in Frankreich, Britannien oder selbst in Russland.“ Die kommenden zehn Jahre würden im Zeichen totalen Misstrauens stehen.

Wo sich die vielleicht loyalsten und wo die möglicherweise unzufriedensten russischen Wähler befinden, offenbarte im Sommer die Änderung der Verfassung. Mit 97,92 Prozent Zustimmung glänzte Tschetschenien, mit 43,78 Prozent lehnte als einzige Region der Autonome Kreis der Nenzen die Änderungen ab. Am 19. September 2021 sind auch sie wieder zu den Urnen gerufen.