24. Jahrgang | Nummer 2 | 18. Januar 2021

Sechshundert Seiten Berlin, Berlin 

von Reinhard Wengierek

Eigentlich hat Berlin zweimal Geburtstag: Es war 1237, als die märkischen Marktflecken im Spreesand nebst aristokratischer Befestigungsanlage urkundlich erwähnt wurden. Ein eher mickriges Ereignis, das man später zum Anlass nahm für die offizielle Stadtgründung „Berlin-Kölln“.

Und es war am 1. Oktober 1920, als das überschaubare so genannte Kern- oder auch Klein-Berlin – etwa die Bezirke Mitte, Kreuzberg, Wedding, Prenzlauer Berg und ein bisschen Friedrichshain – mit dem Umfeld vereint wurde zum Groß-Berlin. In diesem durchaus üppigen Umfeld lagen so respektable Städte wie Spandau, Köpenick, Lichtenberg oder Charlottenburg sowie jede Menge Gutsbezirke, Dörfer und Nester. So katapultierte ein Federstrich Berlin allein bezüglich der Einwohnerzahl (sie verdoppelte sich) an die Weltspitze. – Übrigens, eine Sonderausstellung des Märkischen Museums widmet sich höchst anschaulich den dramatischen Folgen dieser Fusion – bis Ende Mai 2021 oder coronabedingt darüber hinaus.

Freilich, hinsichtlich der Urbanität war Berlin längst schon Spitze, war Hotspot wissenschaftlich-technischer Innovationen (mit jeder Menge Nobel-Preise), war ein Mekka der Moderne mit geradezu explosivem Wachstum und kulturell-weltstädtischem Gepräge, an dem wiederum vornehmlich der hinzugekommene so genannte Neue Westen gehörigen Anteil hatte. Vor allem in diese elegant großbürgerliche Stadtgegend zog nämlich die Heerschar von Künstlern und Denkern, die Berlin als global strahlende Metropole der Avantgarde ausmachte.

An diesem Punkt setzt der innovative Kleinverlag B&S Siebenhaar an mit einem respektablen Kraftakt an. Unter dem Motto „Berlin in Prosa“ wird er eine auf elf (!) Bände angelegte „Kleine Bibliothek der Moderne und Gegenwart“ herausbringen.

Die einzelnen Anthologien sollen Berlingeschichten bekannter wie vergessener Autoren des 20. und frühen 21. Jahrhunderts versammeln, die gleichsam als Flaneure das Wuchtige wie Winzige der sich neu erfindenden Metropole durchforsten – vom Expressionismus bis hin zur Digitalen Boheme. Ihre Texte spiegeln, so der Verleger Klaus Siebenhaar, „den Geist der Stadt sowie die ästhetische Signatur der jeweiligen Epoche“.

Nun liegen die ersten drei auf gutem Papier gedruckten, fein aufgemachten, pointiert mit Fotos und profunden Nachworten der einzelnen Herausgeber sowie mit Quellen- und Autorenverzeichnissen ausgestatteten Büchlein vor.

Man muss ungeniert sagen: Es ist so vergnüglich wie nachdenklich machend, die rund 600 Seiten durchzublättern und im Anekdotischen oder Reflexiven zu schmökern. Der Lesestoff gleicht einem Schnelldurchlauf der so glanzvollen wie schrecklichen Zeiten zwischen 1910 und 1945. Er markiert die Umbrüche zum Schönen wie Schlimmen und erzählt vom Alltag der unterschiedlichsten Leute, von ihrem kleinen und großen Glück, ihren Fantasien und Sehnsüchten oder auch ihrem Leid und Elend.

„Der Wärter gab ihm seine Sachen, der Kassierer händigte ihm sein Geld aus, der Türsteher schloss vor ihm die große eiserne Tür auf. Er war im Vorgarten, er klinkte die Gartenpforte auf, und er war draußen. So, und nun sollte die Welt etwas erleben. Er ging die Straßenbahnschienen entlang …“ So beginnt Georg Heym seine Erzählung „Der Irre“ in Band Nummer eins „Berlin in der expressionistischen Prosa 1910–1920“. – Dies ist der einzige rein literarische Sammelband (signifikanter Titel: „Gewalt und Rausch“), der neben dem unglücklicherweise beim Schlittschuhlaufen ins Eis gebrochenen Heym die Kollegen Carl Einstein, Alfred Lichtenstein und Walter Rheiner vereint – aufregende Fundstücke heutzutage eher vergessener Autoren.

Die beiden Folgebände des bislang erschienenen Dreiers konzentrieren Texte – sagen wir – an der Schnittstelle von Literatur und Publizistik. Band zwei ist populär bestückt mit legendären, zugkräftigen Star-Schreibern wie Yvan Goll, Ruth Landshoff-Yorck, Franz Hessel, Gabriele Tergit, Vicky Baum, Polgar, Döblin, Hasenclever, Koeppen, Kisch, Kafka, Roth, Kästner; die Reihe glanzvoller Autoren ließe sich fortsetzen. Unter der die Twenties trefflichst illuminierenden Überschrift „Glänzender Asphalt“ illustrieren sie eine wahrlich spannende, exzentrische  Stadtrundfahrt in der Weimarer Zeit von 1920 bis 1933.

„Das ist Berlin W: Tausend und tausend Transparente speien eine Fülle von Licht in den grauen Abend hinein, dass der Kurfürstendamm hell liegt, fast wie am Tage. Straßenbahnen klingeln, Autobusse rasseln hupend vorbei, vollgepfropft mit Menschen, Menschen; in langen Reihen summen Taxis und 30 vornehme Privatlimousinen über den spiegelglatten Asphalt.“ So beginnt ein den Band schließender Text „Rund um die Gedächtniskirche“. Er endet mit der martialischen Aussicht auf das „andere Berlin“, das auf der Lauer und zum Sprung bereit stehe, um die „Stätte der Fäulnis rund um die Gedächtniskirche zu zertrümmern.“ Programmatische Ansage im damaligen Feuilleton von – Joseph Goebbels.

Es ist der Verweis aus Weimar hin auf die kommende, auf die NS-Zeit. Der dritte Band „Luftballons und Katakomben“ enthält journalistische Arbeiten, veröffentlicht zwischen 1933 und 1945. Sie zeichnen Berlin-Bilder in „nichtnationalsozialistischer Prosa“. Der Herausgeber, in diesem Fall Verlagschef Siebenhaar selbst, bezeichnet sein akribisches Tun in einem 36-Seiten-Nachwort-Essay als „archäologische Arbeit“. Sie zeige, dass da bei aller Gleichschaltung und Zensur keine „geistige Wüste“ herrschte. Vielmehr lieferten immerhin prominente Autoren (Wolfgang Koeppen, Felix Hartlaub, Mascha Kaléko, Werner Finck oder Friedrich Luft) mit „Überlebensopportunismus“ jenseits von Widerstandsliteratur aufschlussreiche Nischenproduktionen für eine Leserschaft, „die zwischen den Zeilen zu lesen vermochte“. Sozusagen die schillernden Luftballons über den unausgesprochenen Katakomben.

Die für manche brisante, auf jeden Fall aber gerade auch hinsichtlich staatlicher Zensur und Schere im Kopf zu DDR-Zeiten nachdenklich stimmende Sammlung von 35 Beiträgen will für eine differenzierte Wahrnehmung werben, will pauschale Vorurteile relativieren. Ihr quasi als Prolog vorangestellt ist ein Text von Siegfried Kracauer: „Lokomotive über der Friedrichstraße“. Einerseits ein harmloser Titel für eine tolle Großstadtszenerie. Anderseits ein doppeltes Sinnbild: Der schwere, mächtige Apparat, der über den Köpfen donnert – die Maschine, die Fernweh auslöst und hinweg rast mit Reisenden oder Flüchtenden mit hoffnungsvollem Blick nach vorn und womöglich wehem zurück.

Dr. Klaus Siebenhaar (Herausgeber):
Rausch und Gewalt (1910–1920), B&S Siebenhaar Verlag, Berlin 2020, 174 Seiten., 22,00 Euro;
Glänzender Asphalt (1920–1933), B&S Siebenhaar Verlag, Berlin 2020. 199 Seiten, 25,00 Euro;
Luftballons und Katakomben (1933–1946), B&S Siebenhaar Verlag, Berlin 2020, 249 Seiten, 25,00 Euro.