Gerhart Hauptmann lebte mit seiner jungen Frau Marie (Thienemann) zur Linderung seines Lungenleidens von 1885 bis 1889 in Erkner bei Berlin, wo er Anschluss an den „Friedrichshagener Dichterkreis“ fand. Das frischvermählte Paar bewohnte die untere Etage der Villa „Lassen“, die seit 1987 das Gerhart-Hauptmann-Museum beherbergt. In den vier Erkneraner Jahren kamen nicht nur die drei Söhne Ivo, Eckart und Klaus zur Welt; Hauptmann, der sich zunächst als Bildhauer sah, fand hier auch zu seiner eigentlichen Lebensaufgabe als Schriftsteller. In der Abgeschiedenheit entstanden seine ersten bemerkenswerten Werke, die Novellen „Fasching“ und „Bahnwärter Thiel“, die beide in Erkner und Umgebung angesiedelt waren. Die ersten Skizzen zu seinem sozialen Drama „Vor Sonnenaufgang“, das im Oktober 1889 in Berlin uraufgeführt wurde, gingen ebenfalls auf den Aufenthalt in Erkner zurück. Später haben ihn die vier Jahre in der Villa „Lassen“ zu seiner Komödie „Der Biberpelz“ inspiriert, in der er Personen aus dem Ort verewigte.
Ende 2019 begann das Gerhart-Hauptmann-Museum in Zusammenarbeit mit der Hauptmann-Gesellschaft und dem Quintus-Verlag mit der Veröffentlichung einer „Erkneraner Ausgabe“ von Werken des Schriftstellers, jeweils mit einem Nachwort des Museumsleiters Stefan Rohlfs versehen. Die Entscheidung, die Reihe mit der Novelle „Fasching“ zu eröffnen, basierte auf ihrem regionalen Bezug. Der Hintergrund für diese Erzählung ging auf ein reales Unglück zurück, das sich im Februar 1887 ereignete und von dem Hauptmann durch eine Zeitungsnotiz erfahren hatte. In einer Faschingsnacht überquert der gesellige und lebensfreudige Segelmacher Kielblock mit seiner Frau Mariechen und dem einjährigen Gustavchen den zugefrorenen Flakensee am Rande von Erkner. Durch Übermut verliert die junge Familie bei dieser Mondscheinpartie ihr Leben. Hauptmann versah die Erzählung mit Naturbeobachtungen; so beschrieb er das unheimliche Knacken des Eises oder eine ungeheure Wolkenwand, die die Sicht verdeckt. Der Auftaktband der „Erkneraner Ausgabe“ ist mit Zeichnungen von Alfred Kubin illustriert, die bereits eine 1925 erschienene Ausgabe des S. Fischer Verlages schmückten.
Jetzt folgte mit dem Roman „Die Insel der Großen Mutter oder Das Wunder von Île des Dame“ der zweite Band dieser Werkausgabe. In seinem 1924 erschienenen Roman stellte Hauptmann eine in sich geschlossene Gesellschaft dar, die dazu verurteilt ist, über einen längeren Zeitraum vom übrigen Weltgeschehen abgeschottet zu existieren. Bei einer Weltumrundung sinkt der deutsche Dampfer „Kormoran“. Die Katastrophe überleben etwa hundert Frauen und ein zwölfjähriger Junge, die von der Schiffsbesatzung samt umfangreicher Ausrüstung in Rettungsboote verfrachtet werden und auf einer unbewohnten, paradiesischen Südseeinsel landen. Die schiffbrüchigen Frauen gründen unter Führung einer energischen Berliner Malerin eine Frauenrepublik ohne Männer. Rasch blüht das Gemeinwesen auf; es entwickelt sich ein matriarchalischer Kult, der einen ersten Riss erhält, als einige Frauen schwanger werden. Fortan werden die Schwangerschaften einer brahmanischen Gottheit zugeschrieben. Bald ergießt sich ein wahrer Kindersegen über die Insel. Alle Knaben ab dem fünften Lebensjahr werden jedoch in einem abgelegenen Teil der Insel isoliert. Schließlich kommt es in einer bacchantischen Feier zur Vereinigung der beiden Lager.
Hauptmann wurde zu dieser Robinsonade nach eigenen Aussagen durch das „Mutterrecht“ des Schweizer Anthropologen Johann Jakob Bachofen und die Freikörperkultur auf Hiddensee angeregt, wo große Teile des Romans entstanden. So abseitig der Stoff heute erscheint, Hauptmann verarbeitete in diesem dritten seiner Romane auch Zeitfragen. Den menschenmordenden Schlachten des Weltkrieges setzte er die lebenserhaltende Kraft der Mütter entgegen. Ähnliche Motive finden sich in weiteren Dichtungen Hauptmanns nach 1918, unter anderem in „Der Ketzer von Soana“ oder „Till Eulenspiegel“. Mit dem strengen Kodex und dem überspannten religiösen Kult karikierte der Insel-Roman, der damals ein Verkaufsschlager war, aber auch die Künstlichkeit einer solchen sozialen Gemeinschaft.
Die Erkneraner Ausgabe des Romans wird durch einen Aquarellzyklus von Charlotte E. Pauly (1886–1981) illustriert. Die Künstlerin hatte Hauptmann in seinem letzten Lebensjahr kennengelernt, sie besuchte ihn mehrfach im Haus Wiesenstein in Agnetendorf. Noch vor Hauptmanns Tod im Juni 1946 vollendete sie den Zyklus von 25 Aquarellen, deren Originale sich im Besitz des Museums in Erkner befinden. Für 2021 hat der Quintus-Verlag eine Neuausgabe von Hauptmanns Novelle „Der Ketzer von Soana“ mit Radierungen von Hans Meid angekündigt.
Gerhart Hauptmann: Fasching, Quintus-Verlag, Berlin 2020, 55 Seiten, 12,00 Euro.
Gerhart Hauptmann: Die Insel der Großen Mutter oder Das Wunder von Île des Dame, Quintus-Verlag, Berlin 2020, 380 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Erkner, Gerhart Hauptmann, Manfred Orlick, Museum