24. Jahrgang | Nummer 1 | 4. Januar 2021

Ein basisdemokratischer alternativer Ansatz

von Ulrich Busch

Es gab einmal eine Zeit, in der alles möglich schien, sogar ein „demokratischer Sozialismus“. Diese Zeit aber war kurz, sehr kurz. Einige Autoren veranschlagen sie auf ein paar Monate, andere sogar auf nur wenige Wochen. Gemeint ist der „Herbst 1989“. Dass damals noch vieles offen war und die politischen Ziele plural, ist heute, wo man die Montagsdemonstrationen, die Maueröffnung, die Besetzung der Stasi-Zentrale, die ersten freien Wahlen und die Währungsunion in offizieller Lesart als einen Prozess mit dem Ziel der deutsche Vereinigung betrachtet, fast völlig vergessen. Das 41. Jahr der DDR kommt in den Geschichtsbüchern kaum vor und fristet selbst im kollektiven Gedächtnis der Ostdeutschen häufig nur noch ein verschwommenes Dasein. Mit den Erinnerungen aber verblassen auch die Ideen, Hoffnungen und Ziele des Herbstes 1989, sofern sie eben nicht auf den Beitritt zur BRD gerichtet waren, sondern auf eine Demokratisierung der DDR und deren Beibehaltung als eigenständiger Staat mit sozialistischer Gesellschaftsordnung.

Sofern heute, mehr als dreißig Jahre danach, überhaupt noch etwas über die revolutionären Um- und demokratischen Aufbrüche des Jahres 1989/90 bekannt ist, bezieht es sich auf oppositionelle Bewegungen wie das „Neue Forum“ und „Demokratie jetzt“. Die vielen anderen, weniger prominenten politischen Gruppen, Bündnisse und Aktivitäten, wozu auch die „Initiative für eine Vereinigte Linke“ (VL) gehört hat, sind dagegen weitestgehend vergessen. Ihre Ideen fanden in den sich überschlagenden Ereignissen von 1989/90 nur bei wenigen Menschen Gehör und konnten sich politisch nicht durchsetzen. Trotzdem aber gab es sie und fanden sich engagierte, zumeist junge und politisch gebildete Frauen und Männer, die sich für sie eingesetzt hatten. Letztlich aber gehörten diese zu den Verlierern der Geschichte. Ihre Ideen, Ziele, Programme und Manifeste kommen daher bei der historischen Aufarbeitung zu kurz. Vielfach fielen sie inzwischen dem Vergessen anheim. Nichtsdestotrotz aber sind sie Teil unserer Geschichte. Es muss daher Anliegen unseres Gemeinwesens sein, sie zu sammeln, aufzubewahren und an sie zu erinnern. Nicht nur, weil man glauben würde, sie könnten eines Tages wieder aktuell werden, sondern auch wegen ihres besonderen historischen Wertes: Es sind Dokumente eines Umbruchs und Zeugnisse alternativer Ideen, Ansätze und Bestrebungen.

Wer war die VL? Bei Wikipedia lesen wir, dass es sich dabei um „eine politische Gruppierung in der Endphase der DDR“ gehandelt habe. Tatsächlich war die VL eine in Basisgruppen organisierte, an vielen Orten der DDR lokal tätige alternative politische Gruppierung. In dem hier vorliegenden „Material“ ist die Rede von etwa drei Dutzend Gruppen, verteilt auf 15 Bezirke und Ost-Berlin. Besonders gut weiß man über die Berliner Aktivitäten Bescheid und über eine Gruppe in Rostock, woher auch der größte Teil der in vorliegendem Heft abgedruckten Dokumente stammt.

Die lokalen Gruppen verfügten über keine verbindliche „Leitideologie“ und sie unterstanden keiner zentralen Führung. Was sie einte, war, so Erhard Weinholz in seinem Beitrag „Unser linkes Ding“, allein „das emanzipatorische Ziel“ eines freiheitlich-demokratischen Sozialismus, und, dazu passend, „die Basisdemokratie als Organisationsgrundsatz“. Dies unterschied die VL nicht unerheblich von den zumeist zentralistisch organisierten und unter dem Banner einer strikten Ideologie vereinigten anderen sozialistischen Linken, insbesondere den Reformern innerhalb der SED und späteren PDS.

Zwar gab es in der VL kein verbindliches strategisches „Programm“, doch vermitteln das Gründungsdokument, die sogenannte „Böhlener Plattform“, und das Programm zur Volkskammerwahl vom 18. März 1990 eine gewisse Vorstellung über die Ziele, ideologischen Grundlagen und Zukunftsvorstellungen dieser Vereinigung. In der Hauptsache, soviel scheint klar, bestand die Programmatik der VL in der Einführung einer „neuen Lebensweise“ jenseits von Stalinismus und Kapitalismus. Dazu gehörten Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Ebenso aber auch „Geschlechtergleichheit“, „ökologisches Wirtschaften“ und eine „Neuordnung der internationalen Beziehungen“.

Die „große Zeit“ der VL waren die Herbstmonate des Jahres 1989. Thomas Klein, ihr führender Kopf, erblickte bereits im 9. November 1989 eine „Kapitulation vor dem Westen“ und damit das Schwinden der Chancen auf einen erneuerten Sozialismus in der DDR. Die Maueröffnung erschien der VL, wie anderen Bürgerrechtlern auch, als „Katastrophe“. Den „Deutschland einig Vaterland“-Plan Modrows  lehnten die meisten Bürgerrechtsbewegungen ab. Die VL setzte sich auch im Februar/März 1990 noch für die Aufrechterhaltung der Zweistaatlichkeit ein und entfremdete sich damit vollends gegenüber der Bevölkerung. Damit waren die Weichen für ihre Wahlniederlage am 18. März 1990 gestellt: Die VL erreichte ganze 0,18 Prozent. Die besten Ergebnisse wurden in Berlin-Prenzlauer Berg und in Halle-Neustadt erzielt. Die VL teilte damit das Schicksal der bürgerrechtlichen Opposition. Die sich im „Bündnis 90“ zusammengeschlossenen Kräfte kamen auf 2,9 Prozent.

Schaut man sich die wenigen, in der „Böhlener Plattform“ formulierten und leicht modifiziert von den lokalen Basisgruppen vertretenen Grundsätze der VL an, so wird verständlich, warum diese 1990 nicht punkten konnte. So ist in einem Papier der Rostocker Initiative von der „Bildung von Arbeiterräten“ die Rede. Ferner von der „konsequenten Abgrenzung von allen Wiedervereinigungsbestrebungen unter kapitalistischem Vorzeichen“ sowie von „aktivem Antifaschismus und Antichauvinismus“. Damit bewegte sich die VL irgendwie außerhalb der Zeit, auf jeden Fall aber neben den Bestrebungen der breiten Masse des Volkes. Retrospektiv, unter dem Eindruck der bis heute nicht vollständig gelungenen und teilweise missglückten Integration Ostdeutschlands in das vereinigte Deutschland, mag man vieles anders bewerten. Damals aber, im Frühjahr 1990, trafen die Zukunftsideen der VL und ihre Warnungen vor den Folgen einer Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik auf taube Ohren.

Dass diese gut recherchierte und sorgfältig ausgearbeitete Publikation jetzt erschienen ist, nach so vielen Jahren, ist ein Glücksfall. Sie zeigt uns, dass die gesellschaftliche Entwicklung weit mehr Möglichkeiten bereithielt, als damals tatsächlich verwirklicht worden sind. Die geschichtliche Aufarbeitung aber muss alle Ansätze, Ideen und Projekte berücksichtigen, auch die gescheiterten, und sie als Optionen politischer Gestaltung im Gedächtnis behalten.

Christoph Kelz, Hendrik Mayer und Erhard Weinholz: Sozialistische Alternative DDR 89. Die Initiative für eine Vereinigte Linke in Texten und Dokumenten, Materialien Nr. 34, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2020, 95 Seiten. Kostenlos.