24. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2021

Der Mord auf der Jungfernbrücke

von Frank-Rainer Schurich

Berlin hat viele Brücken: historische und janz neue, wie der Berliner sagt, schöne und hässliche, baufällige und denkmalgeschützte. Die Jungfernbrücke zwischen Friedrichsgracht und Unterwasserstraße ist die Inkarnation eines Denkmals, im Mittelteil 1798 erbaut. Bis heute die Touristenattraktion! Die seitlichen Durchlässe hatte man 1914/15 angefügt. Es ist die letzte von ehemals neun Zugbrücken über die Spree. Der mittlere Durchlass von etwa acht Meter Länge war für die damalige Schifffahrt als Klappbrücke mit Aufwindevorrichtungen ausgerichtet, deren technische Konstruktion unverändert erhalten ist. Berlinerisch: Siehste, se jeht noch.

Die charakteristische Silhouette erinnert an holländische Grachtenbrücken, und ihren Namen verdankt sie vermutlich den hugenottischen „Jungfern“, die auf der Brücke Klöppelspitzen verkauften – heißt es in offiziellen Verlautbarungen.

Fangen wir mit diesen Jungfern an. Der „Französische Hof“ gegenüber der Jungfernbrücke mit der Anschrift Friedrichsgracht 61, ein altes, breites, zweistöckiges Haus mit großem Tor und Hof, war nach dieser Lesart der Ausgangspunkt für die Namensgebung. Hier hatten nach dem Edikt von Potsdam (1685) viele vom Großen Kurfürsten aufgenommene hugenottische Emigranten – französische Glaubensflüchtlinge – ihre Wohnung. Auch „Demoisellen“ lebten hier, die wundervolle Spitzen herstellten und darin große Meisterinnen waren. Damals aber sagten die Berliner nicht „Demoisellen“ zu den französischen Kolonistinnen, sondern auf gut Deutsch „Jungfern“. Um es den Kunden beim Einkauf bequemer zu machen und nicht die Wohnungen aufsuchen zu müssen, boten sie an der Brücke ihre Waren feil. Man ging also zu den französischen Jungfern, um Spitzen, feine Wäschestücke und später Bänder zu kaufen. Und weil diese Jungfern nicht nur handfertig, sondern auch klatschsüchtig waren, strömten die Berliner zu den Jungfern, um etwas zu kaufen und zugleich den neuesten Stadtklatsch zu hören.

Andere Erklärungen für den Brückennamen, in der Jungfrauen eine tragende Rolle spielen, gibt es noch. Dem Vernehmen nach sollen weibliche Hausgeister lange vor Einführung der Kanalisation in Berlin diesen Spreelauf, insbesondere unter der Brücke, als Ausgussbecken benutzt haben. Um 1800 ist die Verunreinigung der Wasserläufe zwar ebenso wie das Rauchen auf den Straßen polizeilich verboten, aber laut zeitgenössischen Quellen sollen unter der Jungfernbrücke nicht wenige weibliche Bewohner der angrenzenden Straßen ihre Nachteimer entleert haben. So kippten die „Emmerweiber“ (Eimerweiber) jährlich zirka 200.000 Eimer Fäkalien in die Spree. Schon damals schwere Umweltvergehen, zudem Zeitgenossen berichteten, dass nicht allzu weit unterhalb der Brücke das Wasser für die Weißbierbrauereien geholt wurde … Noch Anfang des 19. Jahrhunderts soll sich unter der Gertraudenbrücke ein mehrsitziger Abort befunden haben, damit Besucher der Stadt ihre Notdurft verrichten konnten.

Christian Fürchtegott Gellert hat in seiner Fabel „Der Bauer und sein Sohn“ beschrieben, dass das Gehen über die Brücke eine Lügenprobe sein kann. Eine etwas anders geartete Probe könne auch, so sagen die Berliner, auf der Jungfernbrücke vollzogen werden. Wenn man nämlich über die Brücke geht und es knarrt, dann ist man noch Jungfrau. Andere wiederum lästern: Ginge wirklich einmal eine Jungfrau über die Brücke, würde sie krachend einstürzen. Sie steht aber schon über 200 Jahre … Probieren Sie es einfach aus!

Möglicherweise hat bei der Namensgebung das Cöllner Frauenhaus eine Rolle gespielt, das sich in der Spreegasse befand. Natürlich waren es keine Jungfrauen, die den Gesellen zu Diensten waren. Die ehrsamen Bürger im Mittelalter sahen es als eine segensreiche Einrichtung an, dienlich zur besseren Bewahrung der Ehe und der Ehre der wirklichen Jungfrauen. Denn die vielen Handwerksgesellen, die nach der strengen Zunftordnung keine Gewerbeerlaubnis bekommen konnten, mussten ehelos bleiben – und gingen daher zu den „Jungfern“ in das Frauenhaus in der Spreegasse. Boshafte Zungen behaupten nun, dass die Brücke ihren Namen von jenem „Treiben“ hätte.

Aber es gibt noch eine Erklärung, die in einem Sagenbuch aus dem Jahr 1845 unter der Überschrift „Das Zeugnis des Blinden“ zu finden ist.

Im „Französischen Hof“ lebte der alte, reiche Junggeselle Caspar Balthasar fromm und gottesfürchtig. Bald aber zog in das Haus der französische Goldschmied Renaud mit zwei lieblichen Töchtern, Louise und Eugenie, die dem Alten den Kopf verdrehten. Tatsächlich liebte Louise aber den ersten Goldschmiedegesellen Gustav, mit dem sie gern tanzen gehen wollte. Gustav war aber dazu nicht geneigt; die Liebenden kehrten daher schmollend aus der Tabagie zurück, gerieten in Wortwechsel, und Gustav ließ Louise auf der Brücke einfach stehen. Caspar Balthasar hatte alles beobachtet, stürzte zu Louise und machte ihr Anträge, die sie energisch zurückwies. Der Alte erdrosselte die hübsche Louise und warf ihren Leichnam von der Brücke.

Ein in der Nähe wohnender Blinder hörte etwas in den Spreekanal plumpsen und fragte laut, was da los sei. Unvorstellbar, aber der Mörder antwortete: „Ach, ein Mauerstein hat sich beim Regen vom Dach losgelöst und ist ins Wasser gefallen.“ Man fand später die tote Louise im Schleusenwehr; bei der Gerichtssitzung fiel der erste Verdacht auf Gustav, der sie zuletzt gesehen und sich im Streit entfernt hatte. Der Angeklagte beteuerte seine Unschuld und wurde dennoch zum Tode verurteilt.

Aber überzeugt waren die Richter von ihrem Urteil wohl nicht, denn plötzlich beantragte man, alle Nachbarn zu vernehmen, die die Ermordete gekannt hatten. Caspar Balthasar wurde als Zeuge vernommen, und vor Gericht sagte er verlegen aus: „Was ich von dem jungen Mann weiß, beschränkt sich darauf …“ Da wurde er durch eine Stimme aus den hinteren Reihen des Gerichtssaales unterbrochen: „… dass nicht Gustav, sondern du der Mörder bist!“ Es war der Blinde, der den Mörder an der Stimme wiedererkannt hatte.

Nun half kein Leugnen mehr. Caspar Balthasar wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Gustav war gerettet. Erst um jene Zeit, so erzählt die Sage, erhielt die vorher namenlose Brücke ihre jetzige Bezeichnung.

Und was ist nun richtig? Finden Sie es heraus, gehen Sie über die Brücke, bestaunen Sie das Kunstwerk. Denn das größte Vergnügen ist es immer noch, gescheite Fragen zu stellen und Antworten zu suchen.