24. Jahrgang | Nummer 1 | 4. Januar 2021

Brexit – ohne sicherheitspolitische Bedeutung für die EU?

von Jerry Sommer

Seit Februar ist Großbritannien nicht mehr Mitglied der Europäischen Union. Damit ist auch das militärische Potenzial der Briten nicht mehr für die EU zugänglich. Allerdings war es auch bisher nicht automatisch nutzbar. Denn die Verteidigungspolitik war und ist in der EU laut deren konstituierenden Verträgen vorrangig eine Angelegenheit der Nationalstaaten. Souveränität ist in diesem Bereich nicht an die EU abgegeben worden.

Die militärische Stärke der Vereinigten Königreichs ist jedoch erheblich: Es ist eine Atommacht mit Flugzeugträgern und fast 200.000 Soldaten. Mit umgerechnet 53 Milliarden Euro hat London in diesem Jahr mehr für die Rüstung ausgegeben als Frankreich oder Deutschland. Allerdings: Für die militärische Sicherheit Großbritanniens und der verbliebenen 27 EU-Staaten hat der Brexit praktisch keine Bedeutung, so die Sichtweise von Oberst a. D. Wolfgang Richter von der Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP): „Es ist nicht die EU, die für die Verteidigung gegen großangelegte Angriffe auf Europa nun wirklich zuständig ist, sondern in erster Linie die NATO.“

Als militärische Bedrohung wird insbesondere Russland angesehen – obwohl es erheblich weniger Mittel für Rüstung ausgibt als die europäischen NATO-Staaten. Militärisch ist Russland der westlichen Allianz deutlich unterlegen. Malcolm Chalmers vom Londoner „Royal United Services Institute“ weist darauf hin, dass insbesondere für die Briten die NATO eine herausragende militärische Bedeutung hat: „Die europäische Verteidigung wird in der Realität vor allem durch die NATO koordiniert. Und Großbritannien hat sehr deutlich erklärt, dass es ein starkes NATO-Mitglied bleiben wird.“

Großbritannien will sich zukünftig stärker als bisher als „Global Player“ positionieren. Ohnehin hat sich London in den vergangenen Jahrzehnten weltweit immer wieder an Interventionen beteiligt – in Afghanistan nach den Terroranschlägen von New York und Washington, 2003 zog London an der Seite der USA in den Irak-Krieg, außerdem beteiligt sich die britische Regierung am Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“. Ob sich die Briten aber auch tatsächlich – wie angekündigt – künftig militärisch noch globaler ausrichten werden, ist offen. Gegenwärtig würde jedoch darüber diskutiert, ob sich „das Vereinigte Königreich außer im Nahen Osten auch mehr im Indopazifik engagieren soll“, hebt Malcolm Chalmers hervor.

Das könnte Auswirkungen haben auf die militärischen Kräfte Londons für Europa. Allerdings ist strittig, inwieweit Sicherheit – ob nun gegenüber Russland oder gegenüber China – vor allem militärisch gewährleistet werden soll. Eine Ergänzung – oder eine Alternative, je nach Sichtweise – sind politische Maßnahmen. Zum Beispiel hat der französische Präsident Macron für eine neue Entspannungspolitik gegenüber Russland plädiert, ohne diesen Ansatz jedoch zu konkretisieren. Großbritannien sieht eine solche Annäherung allerdings sehr skeptisch. Andererseits habe der Brexit die Gewichte innerhalb der EU verschoben, glaubt Bastian Giegerich vom „International Institute for Strategic Studies“ (IISS) in London: „Großbritannien war mit Blick auf Russland und noch bei einigen anderen Themen – ich will nicht sagen ein Gegengewicht – aber es hatte zumindest eine Gegenposition, die dann jetzt in dem Rahmen eben nicht mehr da ist.“

Trotzdem rechnen Sicherheitsexperten nicht damit, dass die EU mit Blick auf ihre Sicherheit künftig zum Beispiel stärker auf Rüstungskontrolle setzen wird. Die diesbezüglichen Risse gehen weiterhin durch die EU, so Wolfgang Richter: „Es gibt Staaten in der EU, auch in der NATO, die mehr für die Rüstungskontrolle werben, und andere, die dem immer eher skeptisch gegenüberstehen.“ Das werde sich auch weiterhin in der EU zeigen, insbesondere im Hinblick auf die osteuropäischen Flankenstaaten Polen, Rumänien und die baltischen Länder.

Ähnlich verlaufen die Fronten wohl auch hinsichtlich einer stärkeren Integration der Verteidigungsstrukturen der EU-Staaten. Großbritannien hat sich dem Ausbau eines militärischen EU-Hauptquartiers immer widersetzt, weil es die Vorrangrolle der NATO dadurch gefährdet sah. Doch ebenso denken unter anderem die baltischen Staaten und Polen.

Seit 2003 führt die EU zivile und militärische Einsätze zur Konfliktverhütung und Friedenssicherung durch. Im Augenblick gibt es 17 solcher Einsätze, an sechs ist auch Militär beteiligt. Von den letzteren Operationen sind allerdings drei lediglich Ausbildungsmissionen. Die Rolle Großbritanniens bei EU-Einsätzen war immer relativ bescheiden, so Bastian Giegerich: „Im Sinne von Beiträgen für EU-spezifische Einsätze und Missionen war der britische Beitrag immer sehr klein, wesentlich kleiner, als man das hätte erwarten können im Kontext der vorhandenen Fähigkeiten. Er lag in der Regel so bei ungefähr vier Prozent des eingesetzten Personals in EU-Missionen und -Operationen.“

Zahlenmäßig könnte der britische Beitrag daher durch die die verbliebenen EU-Staaten vergleichsweise einfach ersetzt werden, so Giegerich weiter.

Für die EU-Operation Atalanta gegen Piraterie vor der Küste Somalias stellten die Briten jahrelang die Kommandozentrale. Bei dieser vergleichsweise bedeutenderen Mission beteiligten sich aber keine britischen Kriegsschiffe. Und der Brexit hat die Operation Atalanta nicht beeinträchtigt. Nun hat Spanien hier das Kommando übernommen. Auch hat dieser Einsatz in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren.

Trotz des EU-Austritts wird auch in Zukunft eine Beteiligung Großbritanniens an solchen Einsätzen grundsätzlich möglich sein. Denn schon bisher waren an derartigen Missionen oft auch Nicht-EU-Staaten beteiligt. Jedoch wird dies jeweils von Fall zu Fall entschieden. Eine Vereinbarung mit Großbritannien könnte andererseits etwas schwieriger werden. Denn selbst wenn es gemeinsame Interessen und Ziele gebe, werde Großbritannien Mitspracherechte fordern, vermutet Giegerich: „Da ist die Schwierigkeit, dass im Moment die EU-Position ist, dass Drittstaaten da relativ limitiert sind in ihren Mitsprachemöglichkeiten. Der Ansatz ist, dass die gleichen Regeln für alle Drittstaaten gelten sollen, während Großbritannien die Position vertritt, dass es eben mehr anzubieten hat als die meisten anderen Drittstaaten, und dass dies eben im zukünftigen Kooperationsgeflecht berücksichtigt werden sollte.“

Allerdings könnten hier durchaus befriedigende Lösungen für die EU und für Großbritannien gefunden werden. Das gilt auch für den von der EU neu eingerichteten „Europäischen Verteidigungsfond“. Mit sieben Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt sollen in den nächsten sieben Jahren gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsarbeiten an Waffensystemen gefördert werden. Im November einigten sich die EU-Verteidigungsminister darauf, dass auch sogenannte Drittstaaten von diesen Geldern profitieren können – also auch Großbritannien. Die Summen sind jedoch nicht allzu groß – und die relativ starke britische Rüstungsindustrie kooperiert ohnehin bereits mit zahlreichen europäischen Rüstungsunternehmen. Viele Beschaffungsprojekte werden schon jetzt bilateral oder multilateral vorangetrieben. Im vergangenen Monat haben zum Beispiel Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und Griechenland im Rahmen der NATO beschlossen, einen neuen multifunktionalen Hubschrauber zu entwickeln.

Die Bedeutung der EU-Koordinierung für Rüstungsprojekte hält Malcolm Chalmers nicht für allzu groß. Politische und wirtschaftliche Aspekte seien viel wichtiger für die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet. Als Beispiel nennt Chalmers die Pläne zum Bau eines neuen Kampfflugzeugs. Neben dem deutsch-französischen FCAS-Projekt arbeiten die Briten an einem eigenen milliardenschweren Programm: „Der Markt ist nicht groß genug, wenn nur ein oder zwei Länder sich an solchen Projekten beteiligen. Deshalb gehe ich davon aus, dass der ökonomische Druck irgendwann dazu führt, dass die beiden Programme kooperieren werden. Vielleicht wird nicht das ganze Flugzeug gemeinsam produziert, sondern nur einzelne Teile oder einzelne Waffensysteme.“

Mit dem Brexit hat die EU zwar ein langjähriges Mitglied mit einem großen militärischen Potenzial verloren. Aber wegen der Bedeutung der NATO hat sich die militärische Sicherheit der EU-Staaten nicht verändert. Und militärische EU-Missionen in den bisherigen Größenordnungen sind auch künftig ohne die Briten möglich. Eine Wende der EU – weg von einem militärischen Aufrüstungskurs, hin zu mehr Rüstungskontrolle – ist trotz Austritts der eher entspannungsunwilligen Briten jedoch nicht zu erwarten.

Dieser Artikel basiert auf einem Beitrag des Autors für die Senderreihe „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 27.12.2020).