24. Jahrgang | Nummer 1 | 4. Januar 2021

„Die Weltgeschichte ist ein wildes Weib …“

von Mathias Iven

Der Zweite Weltkrieg ist erst wenige Monate alt. Jeden Tag erreichen Hermann Hesse in Montagnola unzählige Briefe. Die Absender suchen Rat und Hilfe. Sie berichten aber auch von all dem Schrecklichen, das in Deutschland und in den anderen Ländern Europas geschieht. „In Zeiten wie den jetzigen“, schreibt Hesse seinem Vetter Fritz Gundert, „ist für Leute meiner Art das Schwierigste, nicht enttäuscht zu sein über den völligen moralischen Mißerfolg dessen, was man gedacht, gearbeitet und gewissermaßen ,gelehrt‘ hat.“ Als Dichter, heißt es an anderer Stelle, gilt man als ein Wesen „aus einer mythischen, untergegangenen Zeit, klüger zwar und weit differenzierterer Schwingungen fähig als der heutige Mensch, aber in der Welt und Luft dieses Heute gefangen und zum Verrecken bestimmt wie ein seltenes Tier im Käfig des Zoo“. Das allmähliche Vergessenwerden sei für ihn sicherlich „nicht das schlechteste Los, angenehmer jedenfalls als die Behandlung zwischen Schonung und Sabotage, die Deutschland uns farbigen Ausländern meint gönnen zu müssen“.

Für den sechsten Band von Hermann Hesses Korrespondenz hat Volker Michels gut 500 Schreiben aus den Jahren 1940 bis 1946 ausgewählt und in bewährter Manier umfangreich kommentiert. Sie zeigen Hesse in erster Linie als aufmerksamen Beobachter des Weltgeschehens, den vor allem „das langsame und zum Teil ahnungslose Mithineigezogenwerden Aller in den großen Dreck, die zunehmende angstvolle Verlogenheit aller Politik aller Länder, die Feigheit der Neutralen“ sowie „die so begreifliche wie falsche Pose der Alliierten“ mehr und mehr beunruhigt. „Die Weltgeschichte“, so äußert er im Februar 1940, „ist ein wildes Weib, sie drängt sich uns auf und will, daß ihr noch unser letzter Blick und Seufzer gehöre.“ Doch es gebe, wie er in den folgenden Jahren nicht müde wird zu betonen, in diesem „Entseelungsprozeß“ auch Hoffnung. Denn „die Herren der Welt, jene wilden Halbmenschen, die die Welt regieren und die Macht anbeten“, die keinerlei „Zweifel am Wert und Sinn ihres satanischen Tuns haben“, diese Herren „sind, heute wie immer, nur Herren des Augenblicks, und die ,großen Zeiten‘ hinterlassen große Schutthaufen“.

In diesen Jahren bringt Hesse aber auch sein großes Alterswerk „Das Glasperlenspiel“ zum Abschluss. Um die Jahreswende 1943/44 macht das „Buch seine erste Begegnung mit der Welt in Gestalt von Rezensenten“, die eher verhalten reagieren. Gegenüber seinem Schriftstellerkollegen Rudolf Jakob Humm bemerkt der Dichter dazu: „Im übrigen durfte mein Buch, mit seiner spöttischen Einstellung zum feuilletonistischen Zeitalter, selbstverständlich nicht ausgerechnet bei den Feuilletonisten Verständnis erwarten.“ Im April 1944 beklagt er, dass die Reaktionen auf das Buch lediglich eine alte Erfahrung bestätigen: „[…] man will lesen und darüber klugreden, aber es fehlt jede Fähigkeit und Willigkeit, das Gelesene wirklich ernst zu nehmen“.

Als der Krieg im Mai 1945 beendet ist, beschäftigt Hesse vor allem die Frage, wie es mit Deutschland weitergehen wird. In einer ersten Einschätzung stellt er fest: „Daß jetzt die etwas großsprecherischen Rächer und Sieger nicht nur untereinander schon wieder uneins sind, sondern sich auch dem Problem Deutschland gegenüber als dumm und instinktlos erweisen, scheint mir im Moment das Traurigste von allem.“ Auch für sich selbst sieht er eine ungewisse Zukunft, denn: „Ein deutscher Literat ist in der von Amerika mit Rußland regierten und kontrollierten Welt bestenfalls eine lästige Figur.“ Schon bald wird er das zu spüren bekommen …

Im Zusammenhang mit dem gekürzten Abdruck des zuerst in der Zürcher Weltwoche veröffentlichten Gedichts „Dem Frieden entgegen“ in der amerikanisch besetzten Zone in Deutschland entspann sich im Herbst 1945 ein Briefwechsel zwischen Hesse und dem Schriftsteller Hans Habe, zu diesem Zeitpunkt Chief Editor der in dieser Zone erscheinenden Zeitungen. Der Streit gipfelte in der Aussage von Habe: „An eine Berechtigung Hermann Hesses, noch jemals in Deutschland zu sprechen, glauben wir jedoch nicht. Deshalb […] wäre Ihr Gedicht in unseren Zeitungen nicht erschienen, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, es zu verhindern.“ Wie sehr ihn dieses Urteil traf, zeigt eine Bemerkung Hesses in einem Brief an seinen Sohn Heiner: „Ich schreibe ihm zurück, er möge tun, was er wolle, ich sei stolz darauf gewesen, während des ersten Krieges von den Hurrapatrioten und nachher von Goebbels verfolgt und boykottiert zu werden, und werde nun ebenso es mir zur Ehre rechnen, daß ich auf seiner schwarzen Liste stehe. Eine von amerikanischen Offizieren wiederaufgebaute deutsche Literatur – das ist für mich nichts Genießbares.“ Er sei, schreibt er an Fritz Gundert, „kein besiegter und besetzter Germanensklave und habe wenig Lust, [s]ich vor dem Offizierchen zu rechtfertigen“. Und in einem an die Redaktion der Basler National-Zeitung gerichteten Brief erklärt Hesse im November 1945 abschließend: „Ob meine Bücher in Deutschland ein paar Jahre früher oder später wieder erscheinen, ist unwichtig, und vor den Affen dieser Besatzungsmacht würde ich nie mir die kleinste Gebärde der Anerkennung erlauben.“

Bereits Ende 1945 gab es Gerüchte, Hesse stehe auf der Liste für den „Dynamitpreis“. „Ein Spaß wäre es ja schon“, ließ er den Schweizer Germanisten Robert Faesi wissen, „wenn jemand den Nobelpreis bekäme, dessen gesamtes Werk […] seit Jahren nicht mehr existiert, der außerdem von der Presseleitung der 12. amerik. Armee aus unerfindlichen Gründen auf die schwarze Liste gesetzt ist.“

Hesse war stolz darauf, dass es ihm ein Leben lang gelungen war, „von den offiziellen Stellen und Mächten unbemerkt zu bleiben: kein Staatspreis, kein Ehrendoktor, nichts dergleichen“. Als ihn schließlich die Nachricht von der Verleihung des Nobelpreises erreicht, hält er sich zur Erholung in einem Sanatorium in einem kleinen Dorf am Ufer des Neuburger Sees auf. Mit Blick auf die mit dem Preis verbundenen und von ihm ungeliebten Verpflichtungen teilt er seinem Mäzen und Freund Max Wassmer mit: „Schade, daß die äußeren Erfüllungen im Leben meistens erst dann kommen, wenn sie einem keinen Spaß mehr machen.“

„Große Zeiten“ hinterlassen große Schutthaufen. Hermann Hesse: Die Briefe, Band 6 (1940–1946), herausgegeben von Volker Michels, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 717 Seiten, 58,00 Euro.