Winter 1947/48
Morgens, vier uhr: vertrautes dämmern überm fischmarkt: minus zwanzig grad. Mein vater sagt: der waggon. Steht draußen: vierzig kisten holen. Die kisten müssen raus: es wird hart, junge… wir stehen vorm waggon, reißen die schwere tür auf. Im innern die kisten: ein grauenhafter anblick. Mein vater sagt: du mußt rein. Ich schaff’s nicht. Du hältst das schon durch… klar, sag ich und zieh meinen mantel aus (umgearbeitet aus einer alten wolldecke). Einen augenblick denke ich: scheißkälte und ich mit meinen sechzig kilo lebendgewicht und auf mir schlottern leinenhose, leinenhemd, meine alte sonntagsausgehhose, eine ungefütterte, an den füßen herrensöckchen und halbschuhe. Keine handschuhe, aber den kanthaken hast du in der hand: also rein…
Blindlings wälz ich mich übers eis, fang an zu schlagen (als hackte ein specht auf beton). Endlich die erste kiste: sie rutscht nach unten: (vorsicht: jede scholle kostet ein vermögen!), raus aus dem waggon nun mit der kiste (vierzig kilo). Und wieder rein. Ich spür das eis nicht. Ich bin eis. In das eis eis schlägt… nach einer stunde bringt mir mein vater eine tasse voll markenfreier heißer suppe (nicht vorher, nicht nachher hat etwas so geschmeckt wie jenes undefinierbare zeug!) und wieder rein in den waggon!
Sechs stunden später ist die letzte kiste draußen: mein vater und zwei andere ziehen mich raus, ich klatsch auf das pflaster und denke, ich zersplittere…
Am abend dieses tages schrieb ich (mir war in meiner kalten bude noch immer kalt) mit klammen pfoten mein erstes gedicht: gegen den krieg, gegen den hunger, gegen die mörderische arbeit für einen dreck als lohn…
Ich rannte den kulturredaktionen der zeitungen (von früh bis nachts) die türen ein, die herren zuckten die achseln, zehnsekundenurteile: nichts für uns, künstlerisch wertlos, weil epigonal – sorry…
Einer aber las, strich, debattierte mit mir über gott (der kam vor im gedicht, denn: einer mußte doch schuld sein an der ganzen scheiße…) und die welt, jedes wort wurde gewogen, zwei stunden lang, dann sagte der kerl zu mir: ist immer noch nicht besonders gut, aber so geht’s – zehn mark?
An jenem tag bekam das wort gewinn (vorher von mir nur als kaufmannsdeutsch oder höhnisch mißbraucht) einen sehr neuen klang: war mir eine augenblickliche verheißung des gelobten zeitalters: unwirklich, unüberwindbar, fromm nicht, aber heilig irgendwie…
Seit jenem tag geh ich auf dieses wort zu: jahre, jahrzehntelang ging ich und geh ich und denke: du bist nicht gut genug für dieses wort, deine hände sind nicht sauber und dein gehirn ist nicht klug genug für dieses wort und an deinen füßen hindern ketten mit schweren kugeln der schuld den freien gang… das alles wissend bin ich
Jetzt schon gealtert
Noch immer
Auf dem weg…
*
Vor dreißig Jahren ist der Dichter Jens Gerlach gestorben. Die Toten haben fast keine Geheimnisse mehr, und wo Geheimnisse blieben, werden die Lücken gefüllt mit Mutmaßung und Interpretation. Gerlachs Heimweh nach Hamburg, nach der Warft war kein Geheimnis. Die Zerrissenheit zwischen Heimat und 1953 selbst gewähltem Vaterland hat er in Versen beschrieben. Die Lebensgier auch, die Liebe, hungrig und wild nach dem Krieg, leidenschaftlich und verzweifelt in späteren Jahren. Die Nähe des Todes, immer und immer wieder. Die nicht abzutragende Schuld einer entsetzlichen Jugendtorheit, die ein Leben lang nach Wiedergutmachung schrie. Die Krankheit, Grauensnest und Fluchtort in Zeiten der unerträglichen Leichtigkeit des Seins. Manches hat der parteilose Kommunist beschrieben und beiseitegelegt. Wie Genossen ihre Waffen richteten gegen Genossen in Prag. Und dass es eben nicht Kommunisten sind, die das Sagen haben in diesem Land, dem er sich einverleibt, und dessen Bruderländern. Wo er trotzdem seine Leute fand und Fenster und Türen zur Welt.
Die verschwundenen Illusionen, die zersplitterte Verheißung, ohne dass der Kampf aufgehört hätte oder aufhören könnte, ohne den es Hoffnung nicht gibt.
Die schöne, knochentrockene norddeutsche Ironie, hinter der Zorn und Liebe standen, Hand in Hand. Und wie es Dichters Art ist von altersher, hat der Poet sich gespreizt und gekrümmt, gequält mit Worten und Unsagbarkeiten, in guten Stunden über sich und alles gelächelt zwischen zwei Zügen aus einer guten Pfeife mit möglichst gutem Tabak. Am Angelwasser am besten, am See in Petzow oder anderswo.
Große Komponisten und Dichter sind Jens Gerlachs Mentoren, Freunde und Partner gewesen. Nicht nur, als die „Jüdische Chronik“ entstand. Aus der Geschichte des Blues hat er die eigene Geschichte herausgelesen. So konnte er die „Jazz Gedichte“ schreiben. Den Gestorbenen und Ermordeten hat er noch einen Blick in die Gegenwart gewährt. Daraus wurden die „Dorotheenstädtischen Monologe“. Als Mitte des Lebens die Seele ihm aufsprang, entstand „Der See“. Als sie sich wie eine Wunde schließen wollte, schrieb Jens Gerlach sein „Spiegelbild“. Zwischendurch lektorierte er Schlagertexte, gründete als Texter die Beatband Wir, dichtete Shanties nach, schrieb Lieder wie Losungen: „Wir wollen Frieden auf lange Dauer“. Aus mehreren Sprachen, vor allem der russischen, dichtete er nach und sog daraus Inspiration auch für das eigene Schaffen.
Die Menschen müssen ins Reine kommen mit sich, um miteinander ins Reine zu kommen. Und umgekehrt. Wer sich anmaßt, Verse unter die Leute zu bringen, muss auch ein Lehrer sein. Also selber lernen und niemals aufhören damit. Auch nicht im Krankenzimmer unter dem Dach in den letzten Jahren, den Flatterhohn der Kanaris ertragend und genießend. Zwischen den obersten Bücherreihen steckten die Spitzen der Angelruten. „Da scheißen sie nur auf die Anthologien – die sind sowieso für nichts anderes gut.“
Wie Gerlachs Lebensmut schwand immer wieder, wie er ihn hervorzulocken suchte aus dem grünen Irgendwas im Hofeck, wie Kraft ihm zuwuchs aus der letzten langen großen Liebe zu seiner Frau Caroline, darüber sprach er nicht viel. Lieber machte er anderen Mut. Jüngeren Dichtern zumal. Wie sonst sollte weitergehen, wovon er träumte?
Als die DDR verschwand, war sein alter Spott wieder da, die Angriffslust, der Trotz, mit dem er aus der Bundesrepublik geflohen war, die ihn nun eingeholt hatte. Gedichte als Fußnoten, nüchtern, beißend, nicht selbstgewiss, aber wissend. Drucken wollte sie im Einheitstaumel keiner, aber einige Musiker, darunter die Gruppe Quijote in Chemnitz, haben sich in mehreren Programmen des Werkes von Jens Gerlach angenommen. In diesem Jahr habe ich die Digitalisierung seines Nachlasses abgeschlossen. Wir waren Freunde, ungefähr zehn Jahre lang bis zu seinem Tod. Noch heute vermisse ich ihn.
*
WARUM WIR FREUNDE WAREN
Für Jens Gerlach (1926–1990)
Nun ist mir endlich klar,
warum wir Freunde waren,
du mit dem grauen Haar
und ich noch arm an Jahren.
Laß kommen und laß gehen
das Reden und das Schweigen!
Wenn sich die Zeiten neigen,
laß uns die Sanduhr drehn!
Die Sehnsucht ist ein Meer.
Die Liebe ist ein Lot.
Die Hoffnung heißer Teer.
Und wo ist nun mein Boot?
Das Heimweh ist ein Keil.
Das Vaterland ein Netz.
Die Schuld ein stumpfes Beil.
Und was ist mein Gesetz?
Laß kommen und laß gehen
das Reden und das Schweigen!
Wenn sich die Zeiten neigen,
laß uns die Sanduhr drehn!
Die Krankheit ist Exil.
Das Lachen letztes Nest.
Das Spiel gewinnt das Spiel.
Und was ist dann der Rest?
Laß kommen und laß gehen
das Reden und das Schweigen!
Wenn sich die Zeiten neigen,
laß uns die Sanduhr drehn!
War da nicht auch noch der Mut der Genossen,
die nicht auf uns schossen?
War da nicht auch noch das Lachen der Frauen,
die nicht abgehauen?
Sind da, ganz nah, nicht noch leuchtende Zeilen,
die heute noch heilen?
Was uns zerreißt, lässt sich trotzdem, du weißt,
manchmal teilen.
Der Wind, wo ich heut war,
am See, dem kühlen, klaren,
griff mir ins graue Haar
wie dir vor dreißig Jahren.
Laß kommen und laß gehen
das Reden und das Schweigen!
Wenn sich die Zeiten neigen,
laß uns die Sanduhr drehn!
Schlagwörter: Henry-Martin Klemt, Jens Gerlach