23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: Zwei Geburtstage am 19. Dezember – Jutta Wachowiak in „Jurassic Park“ – Box des Deutschen Theaters. Gratulation zum Achtzigsten / Gedenken und Erinnerung an Tankred Dorst – zum Fünfundneunzigsten

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„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“ Eine alte Weisheit in einem berühmten, vielzitierten Satz von William Faulkner. Christa Wolf hat sie ihrer Erzählung „Kindheitsmuster“, einem DDR-Klassiker aus dem Jahr 1976, vorangestellt. Und ergänzt: „Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

Ein poetisches Prinzip, auf das Jutta Wachowiak, Eberhard Petschinka und Rafael Sanchez zurückgreifen in ihrer theatralischen Gemeinschaftsarbeit „Jurassic Park“. Der Titel ist eine witzige Anspielung – Dinosaurier – auf Jutta Wachowiak. Mitte Dezember wird die Schauspielerin, sozusagen ein DDR-Klassiker, ihren achtzigsten Geburtstag feiern. Wir gratulieren jetzt schon!

Jahrzehntelang prägte Wachowiak – bis in die Nachwendejahre – das Ensemble des Deutschen Theaters. Ihre wichtigen Regisseure hießen Wolfgang Heinz, Friedo Solter, Thomas Langhoff; ihr künstlerischer Radius vermochte weit zu greifen – vom bitter wehen Glücksentsagen bis zum geradeaus forschen Glückskampf. Sie war Proletin und Bürgersfrau, Königin, Göre und Heroine bis hin zur Volksfigur.

Inzwischen hat das DT, die alte, angestammte Heimat, sie wieder; die schöne Herbfeine mit den kräftigen Wangenknochen, den schmalen, blitzenden Augen und Feingold in der Kehle – sie kann nämlich sehr schön singen, etwa bei den in eisigen Zeiten erschütternd dramatischen DT-Volksliederabenden.

Auf ganz unsentimentale, frech lakonische, fein ironische und nicht zuletzt höchst originelle Art erzählt (erst wieder nach Corona) der einstige Film- und Bühnenstar von sich selbst. Das Publikum mit vielen Fans von damals und Neugierigen von heute ist hingerissen. Freilich, manche wackeln kritisch mit dem Kopf. Das ist gewollt und auch gut so.

„Jurassic Park“, der fantastische Hollywood-Blockbuster ist an diesem Abend bloß der frappierend gewitzte Stichwortgeber für Biografisches. Und folglich – und das vor allem! – für eine betont persönliche Auseinandersetzung mit Wachowiaks schlimmen wie auch schönen Erfahrungen mit Politik und Gesellschaft, mit der deutsch-deutschen Geschichte. Und hier wieder vor allem damit, wie die ostdeutsche Geschichte aus westdeutscher Perspektive erzählt wird „als Siegergeschichte“.

„Und jetzt wirst du mir zuhören!!! Jetzt wirst du mir, verdammt, zuhören!!!“ heißt ein imperativer Kernsatz mit – in der Druckfassung – jeweils drei Ausrufezeichen. Die hätten gar nicht sein müssen, auch so hört man der Wachowiak achtzig Minuten lang gebannt zu. Nichts wird uns da um die Ohren gehauen, vielmehr wird ins Hirn getroffen – und ins Herz. Was für eine intime, zugleich grandiose, einzigartige Veranstaltung im dreißigsten Jahr …

Die Geburtstagsvorstellung und Feier im Deutschen Theater verhindert Corona. Also auf später!

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„Ich glaubte mich berufen, den Rahmen zu ändern, in dem Menschen leben.“ Diesen so schön klingenden, so hochmögenden Satz legte Tankred Dorst dem Maler Heinrich Vogeler in den Mund – als dessen Credo, in dem biografischen Drama „Künstler!“. – Also Lebensumstände ändern; viel besser freilich: sie sprengen. Noch in einem seiner letzten Stücke trug Tankred Dorst diesen Jedermann-Sehnsuchtsstoff in sein Theater. Mit durchaus anrührendem Nachdruck, vor allem aber mit einem wehen, bitteren Unterton. Denn Vogelers tragisch umflortes Leben endet in elender Vergeblichkeit.

Schon zu Beginn seiner großen Karriere schrieb Dorst: „Es heißt, die Figuren des Theaters müssten eine Katharsis durchmachen, irgendwie müssten sie am Ende anders sein als am Anfang. Das ist ein schönes Ideal. Aber ich sehe dafür im Leben keine Entsprechung.“ – Nein, dieser Mann glaubte sein ganzes Dichterdasein lang nicht an grundsätzliches Menschenumkrempeln; schon, weil es für ihn den „Menschen im allgemeinen“ überhaupt nicht gab. Weltverbesserung hielt er für eine – vergebliche – Sache von Ideologen. Und so blieb er zeitlebens ein pessimistisch raunender, ein vielleicht gerade deshalb heiterer, bei all seinen fantasievollen Höhenflügen gut geerdeter Poet. Für Wolkenkuckucksheime war er viel zu sehr von dieser Welt.

Es ist nun schon drei Jahre her, als Dorst im Sommer 2017 in Berlin, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte, verstarb. Wir haben damals hier, an dieser Stelle, nichts geschrieben. Deshalb jetzt, anlässlich seines 95. Geburtstags am 19. Dezember – auch wenn es kein ganz runder Gedenktag ist (doch was wird in fünf Jahren sein?) –, ein paar Zeilen der Erinnerung – und Verehrung.

Tankred Dorst, in der Öffentlichkeit stets sympathisch und gelassen auftretend, war noch hochbetagt ein stattlicher Herr mit imposantem, schlohweißem Wuschelkopf, dem freilich, wie er bemerkte, das „Auf und Ab, das Vor und Zurück der Zeitläufte“ mit den Jahren immer rätselhafter wurde.

Mit seinen Halbhundert Stücken gehörte Dorst zu den am meisten gespielten, hoch geehrten Autoren. In seinem breit gefächerten Gesamtwerk verhalf der geistreich skeptische Fantast immer wieder gänzlich neuen Ichs zu kunstvollem Leben – es sind Flüchtlinge darunter, Schriftsteller, Maler, tolle Träumer, absonderliche Narren, verbissene Utopisten, politische Besserwisser oder wunderliche Querköpfe und Einsiedler. Die Vielfalt menschlicher Individuen, ihr verzweifeltes, aberwitziges, tragisches oder auch komisches, heroisches oder gelassenes, immer aber Herz aufreißendes Bemühen, mit der Welt wenigstens irgendwie zurechtzukommen, was nicht selten auch im Scheitern Größe hatte, das alles macht Dorsts Werke für Bühne und Film so irritierend aufregend und packend.

Hinzu kommt ein Spezielles: Dorsts Versiertheit in Mythenfragen, seine dauerhafte Beschäftigung mit der mittelalterlichen Welt der Sagen und Legenden, mit dem er sich übrigens empfahl, noch als Achtzigjähriger auf Bayreuths Grünen Hügel zu klettern, um dort als Regisseur (dabei war Regie nie sein Hauptgeschäft) Wagners gigantische Phantasmagorie „Der Ring des Nibelungen“ zu inszenieren.

„Die Idealisten, Gralssucher, Gründer von Tafelrunden und idealen Staaten, von neuen Ordnungen und Systemen, die mit ihren Theorien Erlösung versprechen und das große Glück über die Menschheit bringen wollen – die führen am Ende ganze Völker geradewegs in die Hölle.“ So steht es, und ausgerechnet dem Teufel wird es zwischen die Zähne geschoben, in Dorsts 1981 in Düsseldorf uraufgeführtem Monumentaldrama „Merlin oder das wüste Land“. Das opulenteste Opus der deutschen Nachkriegsdramatik, ein philosophisch-zivilisationskritisches Breitwandpanorama aus Mythos und Märchen, Ritter-Show und Minne-Lust, Grusical und Groteske, beschreibt in einer geradezu tollkühnen Materialschlacht die Geschichte vom Aufbau und Zerfall von König Artus‘ Tafelrunde. Eine Parabel für den letztlich ins Leere („in die Wüste“) führenden Lauf der Menschheit.

König Artus, der die Idee der Zivilisation gebar, wankt am Ende hinaus in die offene See, unfähig zu ertragen, was die Wirklichkeit aus der Idee werden ließ. Der Mythos wird zum Fluch, der Fluch aber auch zum Mythos. Der Einzelne bemüht sich womöglich – in Grenzen – ums Besserwerden, bleibt jedoch letztlich ein am Ende unerklärliches Monster. Dorst, der erklärte „Lebensbeobachter“ lakonisch: „Das Menschenleben bleibt ein Versuch, und es ist nicht an mir, die Eindeutigkeit der Welt zu beweisen.“

Und auch in seinem tragikomischen Ritterstück „Parzival“ werden hinter der Maske des Mythos, also spielerisch verfremdend, Geschichten erzählt von ganz leibhaftigen Menschen in schwierigen Grenzsituationen – etwa denen zwischen Macht und Ohnmacht, Erkenntnis und Wahn, Lust und Tod; die poetische Ferne also als Folie über dem Gegenwärtigen und Immerwährenden. Dabei haben Dorsts Figuren letztlich weder generell Recht noch Unrecht – das Publikum darf sich seinen Reim drauf machen. Wohlfeile Urteile vermag dieser Dichter nicht auszuteilen. Weder die Wirklichkeiten noch die Ideen haben eindeutig das letzte Wort.

So mag es kein Zufall sein, dass just im Jahr 1968, als der Glauben an die Veränderbarkeit der Welt durch Kunst besonders hoch gehalten wurde, sein „Toller“-Stück herauskam. Mit diesem Werk wider den Zeitgeist wurde der Autor mit einem Schlag berühmt. Seine „Szenen einer deutschen Revolution“, von Peter Palitzsch in Stuttgart urinszeniert und von Peter Zadek unter dem Titel „Rotmord“ fürs Fernsehen adaptiert, erzählen vom anarchischen Dichter Ernst Toller, der als schöngeistiger Guck-in-die-Luft 1919 an der Spitze der Münchner Räterepublik die Welt umkrempeln will – um es schließlich aufzugeben. Mit diesem wirkmächtigen Stück etablierte Dorst sein Lebensthema: Das Grauenerregende und das Verführerische von Utopien.

Und doch, wie bei jedem heiteren Pessimisten, züngelte auch bei Dorst tief im Herzen das feine Flämmchen Hoffnung. Zum Stirb und Werde gehört halt der Wahnwitz des sisyphushaften Neubeginns. Das ewige Dennoch, das Trotzdem. Das variiert er – wie auch besagte Schwierigkeiten mit dem Idealischen – nochmals eindringlich und durchaus amüsant in seinen späten, 1997 uraufgeführten Stücken über Heine („Harrys Kopf“) und Tolstoi („Was sollen wir tun?“).

Seine endspielhafte Komödie „Wegen Reichtums geschlossen“ (1998) bringt das Existenziell-Widersprüchliche sarkastisch auf den Punkt: Geld macht frei, Geld macht böse. Ist also auch kein reines Glücksversprechen. Vom Vertrackten des Glücklichseins handelt auch sein schwarzhumoriges, freches Altmännerstück „Herr Paul“, dessen Quintessenz „Wer lebt, stört“ allgültig und knapp jedes Dasein umreißt.

Tankred Dorst, 1925 im thüringischen Oberlind bei Sonneberg geboren, nach Kriegsteilnahme und amerikanischer Gefangenschaft Literaturstudium in Bamberg, seit 1952 in München ansässig, diente geradezu wie besessen dem Theater. Bei all seiner Skepsis blieb er immerzu neugierig auf Neues, beförderte Nachwachsendes. Für die Bonner Biennale „Neue Stücke für Europa“ war er zusammen mit seiner Frau Ursula Ehlers, unter deren Mitarbeit die meisten Texte entstanden, mehr als zwei Jahrzehnte lang unterwegs auf dem Kontinent, um passende Novitäten für dieses Festival zu akquirieren. Als das 2014 letztmalig stattfand, resümierte er rückblickend eine enorm zunehmende Vielfältigkeit des Theaters.

„Als ich anfing zu schreiben waren die Grenzen der Darstellung enger, alles war strikter, geschlossener. Heutzutage gibt es eine viel freiere Art, Geschichten zu erzählen Und wenn das dann nicht Theater ist, dann nennen wir es eben Theater, würde Brecht dazu sagen.“ Immer aber werde und müsse es dabei um Menschen gehen, nicht allein um Argumente. Nicht darum, „wer Recht hat, sondern wie erregend der Mensch existiert“.