Gegen ein Uhr in der Nacht hörten wir plötzlich ein deutlich vernehmbares, unerträglich vehementes Klopfen.“ Sie kamen, um ihn abzuholen. Warum? Was für eine Frage? „Begreifen Sie doch endlich“, so hatte man es ihnen erklärt, „dass Menschen ohne Grund verhaftet werden.“ Die Wohnung wurde durchsucht, Manuskripte wurden konfisziert, alles konnte gegen den Beschuldigten verwendet werden. – Es war die Nacht vom 16. auf den 17. Mai 1934, die Nacht der Verhaftung von Ossip Mandelstam. Als sie ihn abführten, hatte er nur eine kleine italienische Dante-Ausgabe in der Hand.
In dem im Jahr zuvor entstandenen „Epigramm gegen Stalin“ hieß es am Schluss: „Und er schmiedet, der Hufschmied, Befehl um Befehl – / In den Leib, in die Stirn, dem ins Auge fidel. / Jede Hinrichtung schmeckt ihm – wie Beeren, / Diesem Breitbrust-Osseten zu Ehren.“ Allein diese Zeilen hätten für ein Todesurteil gereicht. Doch man entschied anders. Die „Gnadenerweisung der dreijährigen Verbannung“, so kommentierte es Mandelstam, „zeige lediglich, dass die tatsächliche Strafe auf einen späteren, gelegeneren Tag verschoben sei“. Die Ungewissheit setzte ihm zu. Psychisch am Ende schrieb er im Januar 1937: „Ich bin in die Stellung eines Hundes, eines Köters versetzt. … Ich bin ein Schatten. Mich gibt es nicht. Ich habe nur das Recht zu sterben.“ Wenige Wochen darauf die Rückkehr ins „normale“ Leben, eine letzte Galgenfrist. Am 2. Mai 1938 wird Mandelstam erneut verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Seine Spur verliert sich in einem Durchgangslager in der Nähe von Wladiwostok. Die Sterbeurkunde verzeichnet als Todesdatum den 27. Dezember 1938. Ein Grab sucht man vergebens. Drei Jahrzehnte darauf schreibt Mandelstams Witwe: „Alles, was ich weiß, ist, dass ein Mensch, ein Leidender und Märtyrer, irgendwo gestorben ist.“
Nadeschda Mandelstam war Mitte sechzig, als sie sich an diese Zeit zurückerinnerte, an die neunzehn gemeinsam verbrachten Jahre. Seite um Seite füllte sie mit ihren Notizen, die Chronologie war unwichtig. „Mein Ziel war die Rechtfertigung von Mandelstams Leben“, schrieb sie, „der Weg, um dies zu bewahren, bestand darin nachzuweisen, dass dieses Leben einen Sinn hatte.“ Im Mai 1919 waren sich Nadeschda Chasina und Ossip Mandelstam zum ersten Mal begegnet. Sie war 19, er 28. Drei Jahre später heirateten sie. Es wurde kein leichtes Leben. Der in seinem Schreiben kompromisslose Mandelstam geriet zunehmend in Konflikt mit dem stalinistischen Regime. „Sie nehmen sich“, prophezeite ihm ein Kollege, „selbst am Arm und bringen sich zum Richtplatz.“ 1928 veröffentlichte er sein letztes Buch, 1933 erschien die letzte Prosaarbeit. Im Zusammenhang mit seinem Austritt aus dem Schriftstellerverband hatte er erklärt: „Den Schriftstellern, die im Voraus genehmigte Dinge schreiben, möchte ich ins Gesicht spucken, ihnen mit dem Stock eins überziehen.“ Trotz solcher seine Sicherheit gefährdenden Verbalattacken war er überzeugt davon, dass er „das Wolfshund-Jahrhundert“ überdauern würde.
Als Mandelstam 1934 verbannt wird, geht Nadeschda mit ihm. „Das Einzige, worauf man bauen könne“, sagt er zu ihr, „sei das eigene Durchhaltevermögen und Selbstdisziplin. Lass alle Hoffnung fahren, erwarte den Tod und halte fest an deinen geistigen und sittlichen Werten.“ Auch in der Verbannung entstehen neue Gedichte. Zudem rekonstruiert er den Inhalt der von der Geheimpolizei in der Moskauer Wohnung beschlagnahmten Aufzeichnungen und diktiert alles seiner Frau. Die lernt die Texte auswendig und versteckt die Manuskripte bei Freunden. Durch ihren Einsatz wird Mandelstams Werk für die Nachwelt gerettet.
Der erste Band des außer Landes geschmuggelten Manuskripts von Nadeschda Mandelstams Erinnerungen erschien 1970 unter dem Titel „Hope Against Hope. A Memoir“ in einem russischen Verlag in New York. Nur wenig später wurde das Buch in mehreren westeuropäischen Ländern veröffentlicht, so auch im Frankfurter S. Fischer Verlag. Wanda Bronska-Pampuch, die am 7. September 1938 mit demselben Transport wie Ossip Mandelstam aus Moskau Richtung Wladiwostok befördert wurde, schrieb darüber in der ZEIT: Nadeschda Mandelstams Memoiren zeigen ein „Stück Russland, wie man es nicht kennt, wohl auch jenen unbekannt, die dort leben und die nicht mehr ,blind‘ sein wollen“. Im Gegensatz zu der von Elisabeth Mahler übersetzten Ausgabe von 1971 verzichtet die jetzt vorgelegte Neuübersetzung von Ursula Keller auf willkürliche Texteingriffe und Kürzungen. Hervorzuheben ist aber vor allem der außerordentlich informative und detailreiche, 165 Seiten umfassende Kommentarteil. In ihrem biographischen Nachwort charakterisiert Keller Mandelstams Erinnerungen als „das eindrucksvolle Vermächtnis einer furchtlosen Frau, die durch das Niederschreiben der traumatischen Erfahrungen ihres Lebens Zeugnis ablegte als Mahnung für die nachfolgenden Generationen“.
Nadeschda Mandelstam hat das Erscheinen ihres Buches in der Sowjetunion nicht mehr erlebt. Sie starb im Dezember 1980 in Moskau. Dass dieses bis heute äußerst beeindruckende Zeugnis überhaupt entstehen konnte, schrieb sie vor allem einem Umstand zu: „Ich habe Obdachlosigkeit und Wurzellosigkeit von Mandelstam geerbt. Nur deshalb hat man vergessen, auch mich mit der Wurzel auszurotten.“
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe. Aus dem Russischen von Ursula Keller, Die Andere Bibliothek Bd. 426, Berlin 2020, 792 Seiten, 44,00 Euro.
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