Der 9. Dezember 1980 hat sich in mein Gedächtnis eingegraben. Ich wachte im Leipziger Studentenwohnheim auf und ein Kommilitone sagte mir: John Lennon ist gestern in New York erschossen worden.
Ich vermochte es zunächst so wenig zu glauben wie Millionen Beatles-Fans in aller Welt. Wer hatte warum diesen überaus beliebten und bewunderten Künstler ermordet? Die Nachrichten, darunter der im DDR-Wohnheim nur heimlich zu hörende Deutschlandfunk, teilten nach und nach Einzelheiten mit: Sein Mörder war ein womöglich geistesgestörter Mann von meinem Jahrgang 1955.
Einen Tag später, am 10. Dezember, rissen wir uns fast die Tageszeitungen gegenseitig aus den Händen. Es war einer jener seltenen Tage, an dem sie in den Leipziger Zeitungsständen im Nu ausverkauft waren. Das Neue Deutschland würdigte Lennon nicht nur als großen Künstler und Kopf der „erfolgreichsten Popgruppe der Welt“, sondern teilte mit: „Er war ein aktiver Gegner des Vietnamkrieges und signalisierte sein Eintreten für die Friedensbewegung mit solchen Titeln wie ,Give peace a chance‘ oder ,Power to the people‘. 1969 gab er der britischen Königin unter anderem aus Protest gegen die Unterstützung des Vietnamkrieges seinen von ihr erhaltenen Orden zurück. Auch in den USA, wohin Lennon mit seiner Frau Yoko Ono zog, sang er auf Antikriegskundgebungen. Die USA-Regierung versuchte ihn deshalb auszuweisen.“
In der FDJ-Zeitung Junge Welt schrieb Victor Grossman, einst aus kommunistischer Überzeugung in die DDR gekommener US-Amerikaner: „In einem seiner schönsten Lieder, ,Imagine‘, heißt es: ,Stellt euch vor, Besitztümer gibt es keine mehr, kein Grund mehr für Gier oder Hunger, eine Brüderschaft der Menschen. Vielleicht sagst du, ich bin ein Träumer, doch ich bin nicht allein …“
Auch FF dabei, die einzige Rundfunk- und Fernsehzeitschrift der DDR, würdigte Lennons „gesungene Friedensbotschaften“: Prompt habe die BBC den Titel „Power to the people“ aus ihren Musiksendungen verbannt.
Mit Verboten aufrührerischer Musik kannten sich jedoch nicht nur Kulturgewaltige im Westen, sondern besser noch jene der DDR aus. Unangepasste, notorisch linksliberale Rockmusikerinnen und Musiker galten in den USA, wenn sie den Rassismus im eigenen Land und den Vietnamkrieg anprangerten, als unamerikanisch, die „Halbstarken“ wurden in Westdeutschland fast ebenso scharf angefeindet wie die zu „Gammlern“ erklärten renitenten Jugendlichen in Walter Ulbrichts DDR. Die entspannten Beziehungen zwischen jungen Männern und Frauen galten als unmoralisch. Auch wurden die langen Haare der männlichen Jugendlichen von den Älteren als Affront empfunden, und dies zu Recht: Die jungen Männer setzten sich mit der Haarlänge bewusst vom militärischen Crew Cut im Westen und dem ähnlichen „Russenschnitt“ im Osten, damit einer äußeren Norm des Kalten Krieges, ab.
Das Establishment in Ost und West fürchtete die Kontrolle über eine ganze Generation zu verlieren. 1965 suchte Westberlins Bürgermeister Heinrich Albertz nach dem berühmten Konzert der Rolling Stones in der Waldbühne ein Aufführungsverbot für Beatmusik durchzusetzen, wie fast zeitgleich auch Walter Ulbricht und Erich Honecker auf dem 11. ZK-Plenum der SED. Der Unterschied war freilich, dass Albertz dort scheitern musste, wo Ulbricht und Honecker zeitweise „Erfolg“ hatten.
Noch im April 1965 hatte die DDR-Plattengesellschaft „Amiga“ ein Kompilationsalbum der Beatles pressen und ausliefern dürfen. Am Ende des Jahres wurden alle weiteren Vorhaben, westliche Gruppen auf Vinyl ihren DDR-Fans zugänglich zu machen, abgeblasen. Die „schwarzen Jahre“ für die Freunde der Beat-, Pop- und Rockmusik im Osten brachen an. Eine spontane Demonstration Leipziger Jugendlicher gegen Auftrittsverbote ihrer Bands wurde von der Polizei brutal zerschlagen. Es kam zu Haftstrafen, und im Gefängnis wurden den männlichen Jugendlichen die langen Haare abgeschnitten. Musikgruppen (bisher: Bands) mussten ihre englischen Namen zugunsten deutscher Namen ablegen. „Singt gefälligst in eurer Muttersprache!“, hieß die Aufforderung. Doch John Knepler, im Londoner Exil als Sohn einer englischen Mutter geboren, durfte sich in Konzerten der Thomas-Natschinski-Gruppe (bisher: Team 4) nicht mehr seiner Muttersprache bedienen.
In dieser Phase der schlimmen kulturellen Repression, der auch zahlreiche Filme und Buchmanuskripte zum Opfer fielen, gelang es immerhin Gerhart Eisler, dem Leiter des Staatlichen Rundfunkkomitees der DDR, das Jugendradio DT 64 und somit kleine Freiräume für jugendliche Musikhörer zu erhalten. Interessanterweise konnte sich Eisler dabei auch der Unterstützung der Politbüromitglieder Kurt Hager und Albert Norden, einstige „Westemigranten“ wie er selbst, versichern. Erst im April 1972 setzte eine Tanzmusikkonferenz des DDR-Ministeriums für Kultur der grotesken Debatte, ob die westliche Jazz-, Rock- und Popmusik der DDR-Jugend gemäß sei, ein Ende. Fortan wurde diese Musik auch in der DDR wenngleich nicht überall geliebt, so doch akzeptiert. Nach Lennons Tod veröffentlichte Amiga in der DDR zwei seiner Alben: Erstaunlich rasch, nur kurz nach der Westpressung, kam „Double Fantasy“, die Platte, deren Erscheinen Lennon nicht mehr erleben konnte, 1981 heraus, und zwei Jahre später „Shaved Fish“, ein Best-Of-Album mit Titeln Lennons aus seiner Zeit nach der faktischen Auflösung der Beatles 1970.
All dies sind Geschichten aus einer anderen Zeit. Erschreckend aktuell erscheint jedoch, was die DDR-Zeitungen wenige Tage nach der Bluttat schrieben. Bis zum 8. Dezember 1980, dem Tag von Lennons Ermordung, seien in New York bereits 1600 Menschen umgebracht worden – ein trauriger Rekord in der Geschichte der Stadt. Rund 21.000 würden jedes Jahr in den USA durch Waffengewalt sterben. Fast auf den Tag genau wie Lennon wurde Stella Walsh, 100-Meter-Sprintolympiasiegerin von 1932, vor einem Supermarkt in Cleveland Opfer eines Raubüberfalls. Auch darüber berichtete die DDR-Presse, nicht aber über das bittere Bonmot, das damals in den USA umlief: Ab einem gewissen Alter sei die Wahrscheinlichkeit für eine Frau, vor einem Supermarkt erschossen zu werden, höher als die, einen neuen Partner zu finden.
In jüngerer Vergangenheit ist infolge schärferer Restriktionen beim Waffenverkauf die Zahl der jährlichen Todesopfer in den USA gesunken: Im Jahr 2014 fanden rund 12.500 und 2019 rund 15.200 Menschen den Tod durch Waffen. Nicht eingerechnet sind hier Selbstmorde. Doch allein bis zum 17. November 2020 wurden 16.627 Todesopfer durch Schusswaffen erfasst. Die National Rifle Association (NRA), die Interessenvertretung der US-Waffenlobby, zählt rund 5 Millionen Mitglieder, die politisch zumeist stramm konservativ bis rechtsradikal ausgerichtet sind und die im bisherigen Präsidenten Donald Trump einen engagierten Fürsprecher fanden. Ein Wahlwerbeslogan der NRA lautete: „Defend freedom, defeat Joe Biden“ (Verteidigt die Freiheit, besiegt Joe Biden). Der neugewählte Präsident Biden versprach im Wahlkampf, den ungezügelten Kauf und Verkauf von Waffen einzuschränken – wohl wissend, dass er hier nur wenig Spielraum hat, liegt doch die Verantwortung für die Waffengesetze bei den einzelnen US-Bundesstaaten. So hat erst kürzlich der Staat Georgia, wo ich ein hochinteressantes Jahr als Gastprofessor verbrachte, beschlossen, dass Studenten auch auf dem Universitätsgelände Waffen tragen dürfen, sofern diese nicht offen sichtbar sind. Give peace a chance! – bis John Lennons beschwörende Forderung Wirklichkeit wird, ist es noch ein weiter Weg oder, um einen anderen Beatles-Song zu zitieren: A long and winding road.
Schlagwörter: Beatmusik, DT 64, John Lennon, Mario Keßler, US-Waffenlobby, USA