Es war an einem sonnigen kühlen Novembertag des Jahres 2017, als sich im mecklenburgischen Burg Stargard eine honorige Festgemeinschaft versammelt hatte. Prominentester Gast war der chinesische Raumfahrer Chen Dong, der ein Jahr zuvor dreißig Tage an Bord des „Himmelspalastes“, der chinesischen Raumstation „Tiangong 2“ gearbeitet hatte. Auch die anderen Gäste hatten alle etwas mit Raumfahrt zu tun und waren Teilnehmer an den schon zum 33. Mal veranstalteten „Tagen der Raumfahrt“ in Neubrandenburg. Doch was wollten sie ausgerechnet in Burg Stargard?
Der Aufstieg der Volksrepublik China unter die Raumfahrtnationen ist das Ergebnis einer erst spät begonnenen und überraschend erfolgreichen Aufholjagd. Als die Sowjetunion 1957 ihren ersten Sputnik startete, gab es in China praktisch keine Raumfahrt. Die Sowjetunion und die USA beherrschten damals für viele Jahrzehnte das Feld. Heute sind es etliche Nationen mehr, darunter Europa, Indien und Japan sowie China in der „ersten Liga“. Chinas Aufstieg hat sich lange Zeit fast unbeachtet von der westlichen Öffentlichkeit abgespielt, nicht weil die Chinesen ein Geheimnis daraus machten, sondern weil ihnen hierzulande wenig Aufmerksamkeit zuteilwurde. Die USA haben sogar durchsetzen können, dass es bis heute keine chinesischen Beteiligung an der internationalen Raumstation (ISS) gibt, mit der Folge, dass die stolzen Chinesen eigene Raumstationen entwickelten und in den Orbit brachten. Elf Taikonauten weilten inzwischen im All, darunter auch an Bord der beiden chinesischen Stationen „Tiangong“.
Spektakulär waren in jüngster Zeit die Mondmissionen der VR China, die nach der chinesischen Mondgöttin Chang’e benannt wurden, angefangen von Sonden im Mondorbit bis hin zur Landung des ersten Rovers „Jadehase“ (2013). Eine Erstleistung glückte schließlich 2019 mit der Landung von „Chang’e 4“ auf der erdabgewandten Rückseite des Mondes, wo auch der Rover „Jadehase 2“ abgesetzt wurde. Waren schon dies große technische Herausforderungen, so setzte jetzt die Mission von „Chang’e 5“ allem die Krone auf. Es ging darum, Material vom Mond in einer unbemannten Aktion einzusammeln und zur Erde zu bringen. Das war bis dahin nur der Sowjetunion mit ihren Sonden Luna 16, Luna 20 und Luna 24 (1970 bis 1976) gelungen, während die USA wesentlich größere Mengen an Mondgestein durch die Astronauten ihrer Apollo-Flüge (1969 bis 1972) zur Erde gebracht hatten. Doch die letzten Proben trafen vor 44 Jahren hier ein.
Nun aber greift China mit „Chang’e 5“ in einer anspruchsvollen Mission ebenfalls nach lunarer Beute. Am 23. November 2020 startete die 8,2 Tonnen schwere und aus vier Modulen bestehende Sonde mit einer Rakete des Typs „Langer Marsch 5“ in Richtung Erdtrabant und schwenkte am 28. November in eine Umlaufbahn ein. Um all die vielfältigen Aufgaben des Szenarios zu erfüllen, mussten die Module mit insgesamt 77 Triebwerken unterschiedlicher Schubkraft ausgestattet werden. Nachdem der Lander mit der Aufstiegsstufe abgekoppelt hatte, erfolgte die Landung der beiden miteinander verbundenen Module am 1. Dezember.
Technisch war die gesamte chinesische Rückholmission deutlich komplexer als die sowjetischen Unternehmungen der 1970er Jahre, und viele Freunde der Raumfahrt bangten mit den chinesischen Experten, ob alles reibungslos gelingen würde. Was die Landung auf dem Mond und das Absetzen von Equipment anlangt, gab es bereits gute Erfahrungen. Das Schwierigste kam aber erst noch. Jetzt mussten die Probenahmen und das Verstauen des gesammelten Materials in die Probebehälter gelingen. Das Gestein, das der Bohrer aus bis zu zwei Metern Tiefe gewann, wurde in einen separaten zylinderförmigen Behälter gebracht, der anschließend versiegelt wurde. Dann folgte die Aufnahme von Oberflächenmaterial mit Hilfe eines Schaufelbaggers. Auch dieses Regolith wurde jeweils separat verpackt und anschließend in einen Sammelbehälter überführt und luftdicht versiegelt. Nach insgesamt 19 Stunden war die Aktion beendet, so dass am 3. Dezember die 800 Kilogramm schwere Aufstiegsstufe mit den Proben gestartet werden konnte.
Nun folgte eine der schwierigsten Phasen der gesamten Mission, das Ankoppeln an das Mutterschiff, das etwa 200 Kilometer über der Mondoberfläche umlief. Ein solches Manöver ohne die Mitwirkung von Astronauten hatte es in der gesamten Raumfahrt zuvor noch nie gegeben. Vier Bahnkorrekturmanöver waren erforderlich, um schließlich das Andocken zu bewerkstelligen. Während das Zeitfenster für das Manöver 3,5 Stunden betrug, nahm die Kopplung selbst nur 21 Sekunden in Anspruch. Jetzt mussten die Proben in die Wiedereintrittskapsel „umgeladen“ und nochmals versiegelt werden, um später jede Kontamination mit irdischem Material auszuschließen. Nach 30 Minuten war auch dies geschafft und die Aufstiegsstufe wurde wieder abgekoppelt. Aus der Mondumlaufbahn, in der sie zunächst verblieb, wurde sie dann am 7. Dezember gezielt zum Absturz gebracht, um Weltraummüll in der Umgebung des Mondes zu vermeiden. Die sowjetischen Proben waren seinerzeit bis in eine Distanz von knapp 55.000 Kilometer über der Mondoberfläche gebracht worden, von wo aus sie gleichsam im freien Fall auf die Erde zurück gelangten.
Bei der chinesischen Mission war wesentlich weniger Treibstoff erforderlich, was der Menge des gesammelten Mondmaterials zugutekam. Von den insgesamt aufgenommenen rund zwei Kilogramm stammen 1,5 Kilogramm von der Mondoberfläche und 0,5 kg aus einer Bohrung bis in zwei Meter Tiefe. Zu dieser für eine robotergesteuerte Aktion relativ großen Menge trug auch bei, dass die Wiedereintrittskapsel mit ihrer Masse von rund 300 Kilogramm nicht vom Mond zu „Chang’e 5“ transportiert werden musste, da sie ja in der Umlaufbahn verblieben war. Vor dem Abheben der Aufstiegsstufe war noch eine zwei Meter breite chinesische Nationalflagge auf dem Arm des zurückgelassenen Landers „gehisst“ worden, was bei Millionen Chinesen Begeisterungsstürme auslöste, als die Nachricht die Runde machte.
Die chinesischen Forscher hatten sich sehr genau überlegt, wo auf dem Mond sie die Proben entnehmen würden. Man wollte nichts wiederholen, was schon früher geschehen war, sondern neue Erkenntnisse gewinnen. Deshalb entschlossen sie sich für eine Region unweit des Vulkanberges Mons Rümker im „Meer der Stürme“, von der man weiß, dass das dortige Material mindestens 700 Millionen Jahre jünger ist, als die früheren Proben der USA und der UdSSR. Aus geologischer Sicht handele es sich um eine sehr interessante Gegend und deshalb sei Material aus dieser Region „ein echtes Wunschziel“ der Planetologen, erklärte Ulrich Köhler vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Berlin. So erwarten die Forscher nun aus den Analysen neue Aufschlüsse über den Vulkanismus und die Lebensgeschichte des Mondes sowie die Beantwortung vieler weiterer noch ungeklärter Fragen.
Am 13. Dezember begann die vorletzte Etappe des ambitionierten Unternehmens. Vier Triebwerke feuerten für 22 Minuten und brachten die Sonde aus dem Mondorbit auf Kurs in Richtung Erde. Am 16. Dezember schließlich wurde in rund 5000 Kilometer über der Erde die Wiedereintrittskapsel mit den Proben ausgesetzt. Zunächst erfolgte deren Abbremsung durch die Erdatmosphäre, bis dann in etwa 10.000 Meter Höhe der Stabilisierungs- und der Bremsfallschirm öffneten, an denen die kostbare Fracht auf die Erde schwebte und um 19.07 Uhr die Landung gemeldet wurde. Nun galt es nur noch, die „Nadel im Heuhaufen“ in der Dunkelheit der verschneiten eisigen mongolischen Steppe zu finden. Erst damit hatte die einmalige „kosmische Beschaffungsfahrt“ mit der wissenschaftlich wertvollen „Ware“ vom Mond ihren krönenden Abschluss gefunden. Die automatische Rückholmission „Chang’e 5“ ist wohl der bislang größte Erfolg der chinesischen Raumfahrt, und er lässt unschwer erahnen, was man von China in Zukunft auf diesem Gebiet noch zu erwarten hat.
Kehren wir nun noch einmal nach Burg Stargard zurück. Dort nämlich ist jener deutsche Astronom Karl Rümker (1788–1862) geboren worden, nach dem 1935 das Vulkanberg-Massiv benannt wurde, in dessen Umgebung die Chinesen jetzt ihre Proben genommen haben. Ursprünglich war die Mission bereits für Ende 2017 geplant gewesen und so zog es die chinesische Delegation der Neubrandenburger Raumfahrttage verständlicherweise auch an den Geburtsort von Karl Rümker. Feierlich wurde eine Gedenkstele für den Forscher enthüllt und anschließend durfte der Autor dieser Zeilen noch das Wort zu Leben und Werk des Astronomen ergreifen. Da vor Ort kein Laptop vorhanden war, stellte mir Taikonaut Chan Dong seinen eigenen zur Verfügung. So wurde symbolträchtig der deutsche Astronom unter Verwendung chinesischer Technik gewürdigt, ehe sein „Grab auf dem Mond“ rund drei Jahre später von chinesischen Robotern tatsächlich Besuch erhielt – 384.000 Kilometer von Burg Stargard entfernt.
Schlagwörter: Burg Stargard, China, Dieter B. Herrmann, Mond, Raumfahrt