23. Jahrgang | Nummer 26 | 21. Dezember 2020

Bummi kommt aus Mahlsdorf

von Wolfgang Brauer

Am 15. Februar 1957 erschien die wohl erfolgreichste deutsche Kinderzeitschrift zum ersten Male. Auf dem blauen Umschlag des Heftes sitzt inmitten typischer Kleinkinderspielsachen – die Zeitschrift war von Anfang an für Drei- bis Sechsjährige gedacht – ein fröhlicher gelber Teddybär und begrüßt sein Publikum: „Ich bin Bummi, dein neuer Freund, der jeden Monat für dich erscheint!“ Ab Januar 1965 kam Bummi vierzehntäglich zum Preis von 25 Pfennig, die Auflage des im Verlag Junge Welt erscheinenden Heftes – es war im Abo und im freien Verkauf erhältlich – betrug schließlich 736.000 Exemplare. Bummi erscheint seit 2017 im Kindermedienhaus Blue Ocean Entertainment, gedruckt werden derzeit 45.000 Exemplare. Blue Ocean gehört seit 2014 zu Herbert Burda Media. Auf dem Bummi-Cover prangt der Aufdruck „Pädagogisch wertvoll“, aber die Zeitschrift hat inzwischen mehr mit der Prinzessin Lillifee und den Teletubbies gemeinsam als mit ihrer Vorgängerin. Die war übrigens in einem Konvolut mit drei anderen Zeitschriften 1991 für 1 (in Worten: eine!) DM von Pabel-Moewig erworben worden. Dazu gehörte auch die ABC-Zeitung, die Pabel-Moewig bis Anfang 1996 herausgab. Mir wurde übrigens seinerzeit vom Verlag als „Ersatz“ für die ABC-Zeitung mittels einer entgeltfreien Probenummer Wendy angeboten, eine Pferdezeitschrift für Kinder. Wendy stellte nicht zufällig 1996 auf eine vierzehntägliche Erscheinungsweise um. Die Pabel-Moewig-Leute, die der ABC-Zeitung und Bummi die Ideologie tapfer austrieben, gaben auch so ideologieferne Heftchen wie Der Landser (bis 2013) und das Erotikblatt Coupé heraus.

Das Bummi-Heft 1/1957 ist signiert mit IMR. Das ist Ingeborg Meyer-Rey, die Zeichnerin der Figur und aller mit dem Bärchen verbundenen Bildgeschichten. Ingeborg Meyer-Rey lebte und arbeitete in Berlin-Mahlsdorf. Am 14. Dezember hätte sie ihren einhundertsten Geburtstag feiern können. Nach Mahlsdorf hat sie der Krieg verschlagen. Sie und ihre Mutter waren ausgebombt worden und fanden hier eine Notunterkunft. 1946 gelang es ihr, aus Trümmersteinen ein kleines Haus mit einem späteren Atelier zu errichten. In jenem Jahr begann die ehemalige Studentin der Charlottenburger Kunsthochschule (1940 bis 1944) auch ihre Tätigkeit als Illustratorin für die Tägliche Rundschau, die Tageszeitung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) und die zunächst in deren Verlag erscheinende Roman-Zeitung. Die Beschäftigung mit sowjetischer Kultur prägte sie stark. Ihre ersten Illustrationen waren Werke sowjetischer Autoren: Magdalina Sisowas Buch über die Kinderjahre der Ulanowa, „Galja, die Tänzerin“, und Jewgeni Tscharuschins „Das Wölfchen und andere Erzählungen“. Beide Titel erschienen 1949 im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin. Kultur und Fortschritt, eine Gründung der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion, ging nach 1963 im Verlag Volk und Welt auf. Die von Ingeborg Meyer-Tschesno – sie war von 1951 bis 1954 mit Michael Tschesno-Hell verheiratet – illustrierte Sammlung russischer Märchen „Der gute Held“ zählte 1952 zu den „Schönsten Büchern der DDR“.

Die sehr intensive Auseinandersetzung mit sowjetischer Kinderliteratur und ihren Illustratoren hinterließ durchaus sichtbare Spuren bei Meyer-Rey. Ergebnis war eine klare, sehr figürliche Bildsprache, die auf Wiedererkennbarkeit der dargestellten Sujets setzte und im Falle farblicher Druckwerke gerne warme Farbtöne verwendete. Andreas Bode schreibt im bei J. B. Metzler erschienenen „Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur“ über die Künstlerin: „Ihre korrekt und brav gezeichneten Bilder sind, ganz im Sinne der herrschenden Doktrin, nach dem Grundsatz gefertigt: nur keine farblichen wie formellen Experimente. […] Ihre Kinder haben die typischen Stupsnasen und stark vorgewölbten Stirnen, durch die sie unweigerlich süßlich geraten.“ Welch schlichter Unsinn! Immerhin räumt Bode ein, dass Meyer-Rey „den Geschmack einer breiteren Lesermasse“ getroffen habe. Das stimmt, den der Kinder. Neben Bummi, der Arbeit für andere Zeitungen und Zeitschriften, Schul- und Lehrbücher gestaltete sie über 100 Kinderbücher, die in vielen Ländern, auch westeuropäischen und den USA, publiziert wurden. Vielfach in mehreren Auflagen.

Der KinderbuchVerlag der Verlagsgruppe Beltz – Beltz hält die Rechte des Kinderbuchverlages der DDR – brachte von 1990 bis heute 35 Titel wieder heraus, die von Ingeborg Meyer-Rey illustriert wurden. Das zeitliche Spektrum dieser Neuauflagen reicht fast über das gesamte Schaffen der Künstlerin: vom Pappbuch-Klassiker „Meine Tiere“ (1956) bis hin zu „Ein Vogel wollte Hochzeit machen“ (1987). Seit 2011 gehört auch wieder „Das neugierige Entlein“ (1952) dazu. Der Text des „Entleins“ stammt von Ludmilla Herzenstein. Es handelt sich wahrscheinlich um das erste Kinderbuch überhaupt, das nach dem Kriegsende im Dezember 1945 in Berlin im Auftrage der SMAD noch hektografiert und mit Zeichnungen der Autorin erschien. Von Ingeborg Meyer-Rey sind aktuell 20 Titel verfügbar, darunter wahre Klassiker der Kinderliteratur der DDR.

Bücher im Sinne der herrschenden Doktrin? Oh Heilige Einfalt! Diese Grafikerin unterlag einer einzigen Doktrin, das allerdings mehr als gründlich: Sie liebte ihr Publikum, die Kinder, und wusste, was die wiederum lieben … Und sie hat das Wunder vollbracht, mit Stiften und Pinsel eine ganz eigene zauberhafte Welt zu schaffen, die zugegeben gelegentlich etwas didaktisch daherkommt – Kinderliteratur ist davor niemals gefeit –, aber immer voller Poesie ist. Mit der Bildwelt von Ingeborg Meyer-Rey wuchsen mehrere Generationen auf und wurden von ihr auf subtile Weise geprägt. Weshalb gibt es eigentlich noch keine Monographie über diese bemerkenswerte Künstlerin? Ich wünsche mir sehr, dass die Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin – sie bewahrt das bildkünstlerische Werk Meyer-Reys auf vorbildliche Weise – wenigstens post festum eine Geburtstagsausstellung zustande bringt.