23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Afghanistan-Friedensgespräche noch in den Startlöchern

von Thomas Ruttig

19 Jahre und einen Tag nach den 9/11-Terroranschlägen in den USA, die eine US-geführte Militärintervention im Taleban-kontrollierten Afghanistan auslösten, begannen am 12. September 2020 in Katars Hauptstadt Doha Friedensverhandlungen zwischen der Regierung in Kabul und den Taleban. Seither hat es allerdings kaum Fortschritte gegeben. Bisher streitet man sich über Verfahrensfragen und eine Agenda für die Gespräche. Dabei gibt es zwei Streitfragen, erstens welches islamische Recht für Lösung von Streitfragen die Grundlage bilden soll, zweitens welchen Status das im Februar ebenfalls in Doha geschlossene US-Taleban-Abkommen über einen Truppenabzug und Anti-Terrorismus-Garantien haben soll.

Ende November gab es Signale, man habe sich geeinigt – aber sofort kamen Dementis aus Kabul. Das Geplänkel um – wie es scheinen mag – theoretische Fragen bietet einen Vorgeschmack darauf, wie zäh es bei den inhaltlichen Schlüsselfragen zum künftigen politischen System werden könnte.

Beide Seiten sitzen sich zum ersten Mal offiziell direkt gegenüber. Bis dahin hatte es eine Reihe indirekter und geheimer Kontakte gegeben. Bemerkenswert in dieser Hinsicht war ein von Norwegen veranstaltetes Treffen im Sommer 2015, in dem in Oslo hochrangige Taleban-Vertreter erstmals afghanischen Politikerinnen und zivilgesellschaftlichen Aktivistinnen begegneten. Bei der Eröffnung in Doha , die live aus einem Luxushotel gestreamt wurde, legten die Konfliktparteien in Erklärungen ihre Grundpositionen dar. Der Chef des afghanischen Versöhnungsrates Abdullah Abdullah würdigte die nach dem Sturz des Taleban-Regimes 2001 erzielten „Errungenschaften“ wie „Demokratie, Wahlen, Redefreiheit, Frauenrechte, Minderheitenrechte, den Rechtsstaat, Bürger- und Menschenrechte“, die in der gegenwärtigen Verfassung verbrieft, wenn auch nur in Ansätzen verwirklicht sind. Er vermied aber zu sagen, dass diese vollständig bewahrt werden müssten. Im Vorfeld hatte die Regierung den Taleban eine „Verfassungsreform“ angeboten. Abdullah, ein erfahrener Diplomat, setzte auch einen neuen Akzent in Bezug auf die bisherige Forderung Kabuls, dass mit Gesprächsbeginn eine landesweite Waffenruhe erklärt werden müsse. Nun sprach er davon, dass Kabul eine „humanitäre Waffenruhe“ anstrebe und ein umfassender Waffenstillstand „so bald wie möglich“ folgen solle. Die Taleban beharren bisher darauf, dass darüber erst verhandelt werden müsse.

Mulla Baradar, eigentlich Abdul Ghani (nicht mit dem afghanischen Präsidenten verwandt) der Taleban-Vizechef für politische Fragen, fasste sich kürzer. Er versicherte, seine Bewegung sei „in aller Ehrlichkeit“ an den Verhandlungstisch gekommen, und beschränkte sich auf deren Hauptforderung, dass eine „islamische Ordnung“ für das Land am Ende der Verhandlungen stehen müsse.

Abdullah und Baradar sind nicht die jeweiligen Verhandlungsführer, sondern deren Vorgesetzte. Für Kabul hat der frühere Geheimdienstchef Massum Stanakzai diese Rolle übernommen, der seit einem Taleban-Anschlag am Stock geht. Die Aufständischen ernannten noch kurz vor Gesprächsbeginn einen neuen Chefunterhändler. Abdul Hakim Haqqani Ishaqzai ist der Chef ihres Rates der Islam-Geistlichen und gilt als konservativ. Das wird die Gespräche nicht leichter machen, gibt der Taleban-Delegation aber mehr Gewicht und Entscheidungsbefugnis.

Die Rolle der USA bleibt selbst als Beobachter stark. Außenminister Mike Pompeo, der zu diesem Treffen nach Doha gereist war, sagte den Versammelten, beide Parteien sollten bei ihrer Entschlussfindung die Interessen Washingtons im Blick haben, wenn sie an weiterer Unterstützung interessiert seien. Auch mit den Taleban in der Regierung ist Afghanistan ohne externe Finanzhilfe nicht überlebensfähig.

Den Weg für dieses Treffen hatte erst das Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taleban freigemacht. Der von den USA darin zugesagte – und inzwischen durch Trumpschen Befehl beschleunigte – vollständige Truppenabzug, der auch die Verbündeten einschließt, also auch die Truppen der anderen NATO- und alliierten Staaten, soll bis Juli 2021 abgeschlossen sein. Das war das politische Hauptziel der Taleban, die danach auch ihre Ablehnung von Direktgesprächen beendeten. Allerdings bestehen sie immer noch darauf, dass sie nicht direkt mit der von ihnen nach wie vor nicht anerkannten Regierung sprechen. In der Tat schließt das „Kabuler“ Verhandlungsteam auch Mitglieder oppositioneller Gruppen sowie zivilgesellschaftliche Vertreter ein. Offiziell heißt es Verhandlungsteam der „Islamischen Republik Afghanistan“. Die Bedingung für den Abzug ist allerdings, dass die Taleban im Gegenzug verhindern, dass Terrororganisationen wie al-Qaeda und der Islamische Staat von Afghanistan aus operieren können. Darüber werden derzeit Zweifel gestreut.

Dabei geht es vor allem um zwei Punkte: das Verhältnis der Taleban zu al-Qaeda und das gegenwärtige Gewaltniveau im Krieg. Zwar verpflichteten sich die Taleban im Doha-Abkommen, es Gruppen wie al-Qaeda zu verwehren, „Afghanistans Boden zu nutzen, um die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Alliierten zu bedrohen“ und mit ihnen zu kooperieren. Ausdrücklich nicht erwähnt ist eine Ausweisung oder Verhaftung solcher Kämpfer oder ihrer Familien, wenn sie sich – wie bei vielen der Fall– nicht an Kämpfen beteiligen. Gleichzeitig tauchten zuletzt wiederholt Berichte der afghanischen Regierung über eine anhaltende Taleban-al-Qaeda-Kooperation auf. Einflussreiche Regierungsmitglieder lehnen den gesamten Friedensprozess ab und versuchen, ihn zu unterminieren. Dazu gehört Vizepräsident Amrullah Saleh, ein früherer Geheimdienstchef, aus dessen früherem Hause viele der schwer zu überprüfenden Berichte stammen.

Die Abgrenzung zwischen beiden Gruppen ist in der Tat unscharf, aber nicht jeder Araber in Afghanistan gehört zu al-Qaeda. Zudem tendiert die strategische Bedeutung der durch US-Luftschläge erheblich geschwächten Gruppe für die Taleban gegen Null. Sie dürften sogar daran interessiert sein, al-Qaeda loszuwerden, denn deren Anwesenheit und etwaige Vorwürfe der Kooperation sind die wichtigsten Hürden für die eigene Rückkehr an die Macht.

Zweitens wird den Taleban vorgeworfen, dass sie seit dem Doha-Abkommen die Gewalt im Land eskaliert haben. Sie tun das bisher aber, ohne formal das Abkommen zu verletzen. Darin haben sie sich nur verpflichtet, nicht mehr die US- und verbündete westliche Truppen sowie Bevölkerungszentren anzugreifen. Hingegen hielten sie sich diese Option für die afghanischen Streitkräfte offen. Die USA akzeptierten das. Umstritten ist, ob die inzwischen fast täglichen gezielten Mordanschläge auf militärische und zivile Regierungsvertreter in den Städten unter das Abkommen fallen. Oft übernimmt keine Gruppe dafür die Verantwortung.

Im Resultat gab es seither keine großen Taleban-Anschläge mehr in den Städten. Der Islamische Staat, der weiter bombt, wie zuletzt in der bisher friedlichen Provinz Bamian und gegen die Universität sowie ein Bildungszentrum in Kabul, ist nicht Partei des Abkommens. Gleichzeitig rückten die Taleban aber auf mehrere Provinzhauptstädte zu, darunter Kandahar und Kundus. Nach offiziellen afghanischen Regierungsangaben sollen sie seit Unterzeichnung des Abkommens mit den USA auch 50 der etwa 400 Distriktzentren des Landes attackiert haben. Sie zerstören mit Autobomben afghanische Armeebasen und Polizeiposten und unterbrechen immer wieder wichtige Straßenverbindungen. Die Moral bei den Regierungskräften bröckelt. In mehreren Provinzen räumten sie ohne Befehl Stützpunkte, weil sie nicht mehr versorgt wurden. Offenbar schaffen die Taleban sich Ausgangspositionen für eine Situation, in der die Friedensgespräche mit Kabul zusammenbrechen.

Trumps Truppenreduzierungsbeschluss von Mitte November, der die Zahl der US-Truppen in Afghanistan bis Mitte Januar von 4500 auf 2500 reduzieren soll, schwächt also die Verhandlungsposition der afghanischen Regierung weiter und erweitert die Optionen der Taleban. Sie können bei Verhandlungen mit einer geschwächten Regierung mehr herausholen oder, falls diese kollabieren, militärisch in die Offensive gehen. Ob 2500 US-Soldaten sie dann noch stoppen können, ist nicht sicher.

Biden wird kaum den Truppenabzug umkehren; allerding scheint er nach Ansicht vieler US-amerikanischer Kommentatoren eine kleine Anti-Terror-Truppe in Afghanistan lassen zu wollen. Solche Ideen hatte auch Trump schon ventiliert. Allerdings hatten die Taleban dazu schon ein deutliches Nein geäußert, und es ist fraglich, ob Biden das Doha-Abkommen noch einmal aufschnüren will. Andererseits hoffen genau darauf Teile der afghanischen Regierung und Zivilgesellschaft, ohne sagen zu können, wie sie den Krieg unter solchen Umständen beenden wollen. Böse gesagt, repräsentieren diese Stimmen vor allem die städtische Bevölkerung, die vom Krieg weniger abbekommt (obwohl die häufigen kleineren Anschläge schlimm genug sind), während die schwersten Kämpfe abseits der Medienberichterstattung in den Landgebieten toben. Unabhängige Sicherheitsspezialisten haben im dritten Quartal 2021 die höchste je registrierte Zahl an Zwischenfällen – also direkten Kampfhandlungen, Anschlägen, Bombardierungen und anderes – verzeichnet.

Allerdings hat die internationale Staatengemeinschaft auf der Afghanistan-Geberkonferenz am 23./24. November in Genf der Kabuler Regierung nicht nur finanziell (wenn auch mit um 20 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2016–20 gesunkenen Finanzzusagen) politisch den Rücken gestärkt und deren Forderung nach einem umfassenden und sofortigen Waffenstillstand übernommen.

Eins ist klar: Die Positionen beider Seiten stehen einander diametral gegenüber, und es wird viel Kompromissbereitschaft erfordern, sich einander bis auf eine Lösung anzunähern. Der Weg dahin wird kompliziert und wohl viel Zeit benötigen. Insofern ist es immerhin gut, dass der unberechenbare Hausherr im Weißen Haus nun einem Realpolitiker gewichen ist.