Es sei im US-Wahlkampf viel über Russland diskutiert und dabei wiederholt sein Name genannt worden, wendet sich der Reporter vom TV-Kanal Rossija1 an den Präsidenten. Wladimir Putin überrascht ihn todernst mit der Gegenfrage: „Hat man mich gelobt?“ Das prompte „Nein“ quittiert der Kremlchef trocken: „Ich glaube Ihnen nicht.“ Dabei müsste seine demonstrative Zurückhaltung doch aufgefallen sein. Der Kreml verweigerte noch Tage nach dem Urnengang eine Stellungnahme, dass in den Vereinigten Staaten keine Vorwürfe einer Einmischung Russlands in die laufenden Präsidentschaftswahlen erhoben worden seien. „Leider wird in den Vereinigten Staaten alles an unserem Land als ein rotes Tuch für den Stier wahrgenommen, also lassen Sie uns jetzt nichts kommentieren. Vielleicht sollten sich die Amerikaner um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern“, entwich Sprecher Dmitri Peskow.
Natürlich weiß sein Chef Wladimir Wladimirowitsch besser als jeder andere, dass er für alles Ungemach der westlichen Welt und noch jede krumme Tour irgendwo von irgendwem als Buhmann herhält. Seien es nun die Republikaner Donald Trumps oder die Demokraten Joe Bidens, Putin ist ihnen der Chef des Reiches des Bösen und diesem entsprechend. Nach verbreiteter Ansicht des Westens und seiner führenden Medien mischt Russlands Präsident nicht nur ungefragt auf regionalen und weltpolitischen Schauplätzen mit, lässt nicht nur Fracking schädigende Erdgasleitungen nach Westeuropa legen, sondern braut im Labyrinth der Kremlflure tödliche Gifte, hackt harmlose Computer und wahlzettelt Siege und Niederlagen in unschuldigen Demokratien an.
Den Vorwurf irgendeiner Einmischung in die Wahlen hatte das Außenamt in Moskau bereits vorauseilend und undiplomatisch eindeutig als „verlogene Unterstellung“ zurückgewiesen. Doch dass US-Geheimdienste diesmal „fast keine“ Cyberattacken am Wahltag verzeichneten, sollte nicht als Anerkennung Moskauer Zurückhaltung missverstanden werden. Vielmehr ließ die US-Agentur für Cybersicherheit wissen, die Dienste hätten selbst erfolgreich „präventiv Angriffe auf die Cyberstrukturen in Russland und Iran“ geführt. Damit seien Versuche der Einmischung „neutralisiert“ worden – freilich nicht die eigenen in fremde Netze.
Nicht einmal der Präsident wollte das Thema Wahlen in den USA vor der Zeit berühren, berichtete die Iswestija, „da er sich vor Anschuldigungen wegen der angeblichen Einmischung Russlands in die amerikanischen Wahlen fürchtet“. Russland wisse nicht, was die Demokraten oder die Republikaner im Ergebnis der Wahlen vorhätten, versicherte Putin staatsmännisch ausweichend während eines Online-Investitionsforums seine Neutralität. Er werde mit jeder neuen Administration zusammenarbeiten und jede Entscheidung des amerikanischen Volkes respektieren.
Der seit 1993 die von ihm mitgegründete Kommunistische Partei der Russischen Föderation führende Gennadi Sjuganow war weniger befangen. Unabhängig davon, wer als Präsident ins Weiße Haus einziehe, gehe es diesem ganz einfach um die Auflösung Russlands, seine Zerstörung als starker Staat. Trump mochte der Genosse immerhin zubilligen, dass er einer der wenigen amerikanischen Präsidenten sei, die noch keinen einzigen Krieg begonnen hätten. Dessen Umgebung sei aber nicht als pro-russisch zu bezeichnen.
Bekanntlich kündigte Trump einst bessere Beziehungen mit Putin an und dann im Handstreich gleich mehrere historische Abrüstungsverträge mit Russland. Im Oval Office unterzeichnete er trotz angeblicher Zuneigung zum ersten Mann im Kreml noch jedes Sanktionsgesetz. Trotzdem giftete der Kandidat der Demokraten: „Er ist Putins Welpe“. Als „Schoßhündchen“ hätte er sich mit seinem Schweigen zum Komplizen gemacht, während Biden als Wahlsieger „das Putin-Regime für seine Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen“ verspreche.
Als der russische Präsident vom Rossija-TV-Reporter nach den Geschäften von Bidens Sohn Hunter gefragt wird, geht ihn das nichts an – der agiere ja in der Ukraine. Er mache gutes Geld, was nicht kriminell sei. Ob denn Biden, wie Trump sage, bis heute von Russland finanziert werde, ist Putin ein feines Lächeln im Mundwinkel und die harmlos scheinende Aussage wert: „Keine Kommentare. Auf Wiedersehen!“ Ein russischer Bärendienst. Denn der lässt alle Deutungen zu und kann auch als subtile Replik auf Vater Bidens rüde wiederholte, doch von höchsten US-Stellen ausdrücklich unbestätigte mediale Unterstellung gelten, dass „Russland Kopfgelder für die Tötung von US-Soldaten in Afghanistan bezahlt“. Nicht nur die Frankfurter Rundschau rätselt seither über den „gewieften Taktiker“: „Wladimir Putin ‚hilft‘ Joe Biden – oder doch Donald Trump?“
Sollte ihm wirklich gleichgültig sein, wer im Weißen Haus in Washington regiert, wäre sich der Hausherr des Moskauer Kreml mit der Mehrheit der russischen Bürger durchaus einig. Denn nach einer Umfrage der Zeitung Kommersant, wer für Russland besser sei, meinten knapp 74 Prozent, das mache keinen Unterschied oder niemand sei besser. Trump gaben immerhin 19 Prozent den Vorzug, Biden nur sieben. Der Leser Juri Sagajdatschny kommentierte, es gebe für das russische Volk überhaupt keinen Unterschied. Dem Kreml sei Trump näher, weil er irgendwie berechenbarer sei. Bei Biden sei unklar, wie er die USA führen werde. Für Alexander „ist jeder auf seine Weise feindlich“ und Anarchist spöttelt offenbar mit Blick auf Putins „gelenkte Demokratie“, dass selbst kurz vor dem Wahltag der Sieger noch nicht bekannt gewesen sei: „Beispiellos, was für ein Durcheinander. Verstehst Du, keine Vertikale.“
Mit einer gewissen Genugtuung beobachtete die Turbulenzen und Polarisierung um Wahl und Auszählung ausgerechnet zum russischen „Tag der Einheit des Volkes“ am 4. November der Publizist Dmitri Kosyrew. Er erinnert an die traurig-selbstironische Einschätzung von Bürgern des Sowjetlandes in den 1970er und 1980er Jahren, dass es schließlich ein Beispiel geben müsse, anhand dessen sich der jungen Generation zeigen ließe, dass man so nicht leben könne. „Es wäre den damaligen Sowjetbürgern allerdings schwer zu erklären gewesen, dass eine solche Stimmung 2020 die amerikanische Gesellschaft erreichen wird.“
Für ein „spannendes Schauspiel mit einem bis zuletzt offenen Finale“ bedankte sich in der Rossiskaja Gasjeta der angesehene Politologe Fjodor Lukjanow, Professor an der Hochschule für Ökonomie in Moskau. Künftig seien die Vereinigten Staaten vornehmlich mit sich selbst beschäftigt. Für Russland sieht er nur geringe Folgen der derzeitigen Entwicklung. Die frühere politische Agenda zwischen Russland und den USA sei erschöpft, auch wenn der Abrüstungsvertrag New START verlängert werden könne. Die Wirtschaft spiele keine große Rolle und ideologisch „haben wir uns nach den romantischen Illusionen liberaler Harmonie in den frühen 1990er Jahren“ längst zu entgegengesetzten Polen bewegt. Washington und Moskau seien füreinander nicht mehr so wichtig wie früher und ohnehin werde die innenpolitische Polarisierung Amerikas eine aktive und folgerichtige Außenpolitik in keinem Fall zulassen. Die übermäßige Fixierung Russlands auf die USA müsse rasch ein Ende finden.
Auch ohne die US-Wahl und deren Folgen hat der Kremlchef genug zu tun in Syrien, mit der Ukraine, Armenien und Aserbaidschan wegen Nagorny Karabach, mit einem abdriftenden Moldova, Corona, einem selbstherrlichen Herrscher von Belarus und der Erdgasleitung Nord Stream 2. „Wie kann man nur so schusselig sein!“, spottete das Online-Satireblatt Der Postillon, und ließ Putin sagen: „Aber vor lauter Innenpolitik und Corona und den vielen anderen Ländern, in denen unsere Hacker Wahlen beeinflussen müssen, habe ich die Vereinigten Staaten ganz vergessen. Na toll!“
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