Immer mal wieder erscheinen Bücher, die Sprengstoff – mindestens politischen – enthalten. Des Potsdamer Militärhistorikers Sönke Neitzels 800-Seiten-Wälzer „Deutsche Krieger: Vom Kaiserreich zur Berliner Republik“ gehört gewiss dazu.
Neitzel gelang es, Zugang zu einer Vielzahl von Bundeswehrangehörigen sowie deren Vertrauen zu gewinnen – zu einer Welt, in der ein strikter Schweigekodex konstituierender Bestandteil des Komments ist. Diese Quellen ermöglichten dem Autor einige unerhörte Enthüllungen.
So heißt es im Kapitel „Die Bundeswehr in Afghanistan“, dass „selbst hartgesottene Soldaten des KSK erschüttert“ gewesen seien, „als ihnen Amerikaner nonchalant davon berichteten, wie sie gefangene Taliban exekutierten“.
Gefangene, ergo entwaffnete Feinde? Exekutiert? Das wären nonchalante Bekenntnisse zu eindeutigen Kriegsverbrechen gewesen!
Im selben Kapitel schreibt Neitzel, „dass es in den Stäben durchaus unterschiedliche Auffassungen von legitimer und illegitimer Gewalt gab, auch Meinungsverschiedenheiten über die Rolle der Amerikaner im Land“. Teilweise seien deutsche Stabsoffiziere abgelöst worden, weil sie das Vorgehen der Amerikaner nicht mit ihren Vorstellungen über den Charakter des Einsatzes in Einklang bringen konnten. Andererseits: „Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich (Hervorhebung – G.M.) umkamen, nahm man das hin. Mancher wunderte sich gewiss, dass darüber nicht gesprochen wurde. Doch keiner wollte sich mit den Amerikanern anlegen, von denen die Deutschen in vielerlei Hinsicht abhängig waren. Im Zweifelsfall waren es ihre Hubschrauber, die deutsche Verwundete ausflogen, ihre Flugzeuge, die schwer bedrängten deutschen Soldaten Luftunterstützung gaben. […] Die Deutschen waren insgesamt loyale Allianzpartner, die die nächtlichen Schattenkrieger mit Logistik, mit Absperrungen und auch mit Sanitätern unterstützten.“
Es gab, kam selbst die FAZ in einer Besprechung des Buches nicht umhin zu fragen, „also diverse Operationen amerikanischer Spezialkräfte, bei denen mehr als hundert Zivilisten umkamen, von denen die Bundeswehr wusste, zu denen sie aber schwieg? Und von denen die Öffentlichkeit nicht erfuhr?“
Bleibt zu fragen, ob etwa Parlamentarier des Bundestages, die das Mandat für den Afghanistan-Einsatz der deutschen Streitkräfte immer wieder verlängert haben, davon wussten. Winfried Nachtwei, ehemaliger sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, bekannte jedenfalls: „Die Enthüllungen von Sönke Neitzel zu amerikanischen Kriegsverbrechen in Afghanistan sind […] nicht völlig überraschend.“ Doch die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), ließ über ihren Referenten bereits wissen: „Frau Högl wird sich dazu nicht äußern.“
Darüber hinaus berichtet Neitzel im Kapitel „Neue Welt, neue Aufgaben“: „Weitgehend unbekannt ist, dass inoffiziell schon seit 1991 rund 200 bis 300 Bundeswehrsoldaten als Freiwillige im jugoslawischen Bürgerkrieg kämpften. Insbesondere aus den Garnisonen in Süddeutschland fuhren viele Männer auf ein verlängertes Wochenende oder im Urlaub an die Front, um Kampferfahrung zu sammeln. Das war zwar illegal, wurde von den Vorgesetzten in vielen Fällen aber gedeckt, da man die Eigeninitiative als wertvolle Bereicherung der Gefechtsausbildung betrachtete.“
Auf die politischen Konsequenzen von Neitzels Enthüllungen, wenn sie denn von der politischen und militärischen Führung im Lande nicht geflissentlich totgeschwiegen werden oder wenn nicht alle zuständigen Verantwortungsträger einfach die Högl machen, darf man gespannt sein.
Sönke Neitzel: „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“. Propyläen Verlag, Berlin 2020, 816 Seiten, 35,00 Euro.
Schlagwörter: Afghanistan, Bundeswehr, Gabriele Muthesius, Kriegsverbrechen, Sönke Neitzel, USA