Bei den gesellschaftlichen Diskursen, die jenseits aller Anti-Corona-Debatten aufflackern, lässt sich ein gemeinsamer Nenner ausmachen: die Diskurse haben vorrangig mit Sprache zu tun. Einerseits mit der Entgleisung und Verrohung von Sprache, durch die in den sogenannten sozialen Netzen bewusst Grenzen überschritten werden. Grenzen der sogenannten politischen Korrektheit, von bestehenden Tabus oder schlichtweg des menschlichen Anstandes. Schon der in diesem Zusammenhang eingebürgerte Begriff „Shitstorm“ belegt das Problem. Ganz nebenbei auch noch ein weiteres, nämlich das der extensiven Verwendung von Anglizismen, die weit über das Maß hinausgeht, das für die Kommunikation einfach praktisch und damit sinnvoll ist.
Auf der anderen Seite macht sich eine Tendenz breit, die tief in die Sprache selbst eingreift und bei der alle Substantive, die sich auf Männer und Frauen anwenden lassen, mit einem BinnenI oder einem Sternchen aufgebrochen werden. Die Motivation, die dahinter steht, läuft darauf hinaus, mit der Tabuisierung des generischen Maskulinums der Vorherrschaft des Patriarchats einen Schlag zu versetzen. Wobei jene, die das überwiegend für geschichtsvergessenen und sprachverhunzenden Unsinn halten, sich zumindest einem normativen Druck ausgesetzt sehen könnten, wenn sie beispielsweise für öffentlich-rechtliche Medien arbeiten. Hier macht sich der Eindruck einer von einer abgehobenen Elite verordneten Sprachreglung breit, die der Eigendynamik von lebendiger Sprachentwicklung widerspricht.
Diesen gesellschaftlichen Debatten-Kontext hat eine exklusive Veranstaltung schon vor mehr als einem Jahrzehnt – gleichsam als Kulisse – vorweggenommen: Das Festspiel der deutschen Sprache im Goethe-Theater in Bad Lauchstädt südlich von Halle. Alles meint hier, was es sagt: Es geht um ein Festspiel der deutschen Sprache mit Blick auf die Klassiker, also immer wieder auch auf Texte von Goethe und Schiller. Für das Festspiel sorgen dabei erstklassige Schauspieler – und natürlich Schauspielerinnen. Die alle auch dann spielen, wenn sie mit dem Manuskript vor sich „nur“ lesen. Kaum ein Ort ist dafür besser geeignet, als jenes Theater, dessen Errichtung Goethe höchstselbst vollendet und das er einige Jahre selbst geleitet hat.
Im Frühherbst 2020 ist es hier wie überall: Auf das Goethe-Theater fallen gegenwärtig Licht und Schatten. Schatten und Licht müsste man eigentlich sagen. Jede geöffnete Pforte eines Musentempels muss der Pandemiebekämpfung abgerungen werden. Überall gelten Mundschutz- und Abstandsregeln. Die Programme werden angepasst, die Zuschauerzahlen drastisch reduziert. Auf den Bühnen wird es nur handgreiflich, wenn die Akteure auch sonst quasi einen Haushalt bilden. Oder wenn sie privilegiert getestet werden können. Das trübe Herbstwetter ist da nur eine atmosphärisch passende Zugabe.
Auf der anderen Seite hat sich das Sprache-Festspiel, das Sopranlegende Edda Moser (82) mit tatkräftiger Hilfe des ehemaligen deutschen Außenministers und bekennenden Hallensers Hans-Dietrich Genscher 2007 in dem historischen Theater südlich von Halle auf den Weg gebracht hat und seither alljährlich künstlerisch inspiriert, ebenso herausgemacht wie das Theater und die benachbarten Kuranlagen mit dem prächtigen Saal. Für den Chef des Theaters und der Kuranlagen René Schmidt bleibt Goethes eigenes Theater eine restauratorische Daueraufgabe. Die äußere Hülle und das Dach sind jetzt ebenso vorbildlich in Schuss, wie der Kursaal und dessen angebautes Foyer. Das Festspiel selbst ist inzwischen mit über einem Dutzend ganz unterschiedlicher Veranstaltungen in das Format hineingewachsen, das es im Namen führt. Diesmal sogar mit zwei Mozart-Opern (der Zauberflöte und der Entführung aus dem Serail) und Konzerten umrahmt.
Im Zentrum aber stand wie immer eine hochkarätig besetzte szenische Lesung. Schillers „Kabale und Liebe“. Dazu eine Generalprobe mit Schülern im Publikum. Anders als bei den üblich gewordenen Stückdekonstruktionen haben die Schüler das gegen die Verhältnisse revoltierende Stück aus dem deutschen Literatur-Kanon dabei tatsächlich kennengelernt. Und es entfaltet immer noch seine Wirkung. Bei den Schülern und im Falle der Wiederbegegnung. Durch alles Pathos und die Fremdheit der Standesgrenzen hinweg. Mit einer Sprache, die ohne all die heutigen Anglizismen oder Binnen-I- und Sternchenmoden auskommt. Eine, die von Herzen kommt und diese berührt, bedarf all dessen nicht. Wenn alte Texte, allein von der Lesebühne aus, so packen, dann liegt das natürlich daran, wie hier die Mimen den ganzen „Rest“ durch ihr Charisma mitschwingen lassen. Wie das Hallenser Theaterurgestein Reinhard Straube bei seinem selbstbewussten Miller. Es macht Spaß zu sehen, wie dessen Grobheiten seiner Frau gegenüber an den 90 Jahren Lebenserfahrung von Irma Münch abperlen. Oder wie Günther Maria Halmer als Präsident von Walter den personifizierten Zynismus der Macht verkörpert. Natürlich auch, wie Festspiel-Stammgast Markus Meyer den stürmischen und leicht täuschbaren Ferdinand und Pauline Knof dessen Luise geben. Lady Milford, nach deren großem Auftritt das Regime des Herzogs plötzlich ziemlich hässlich aussieht, ist Knofs (leibliche) Mutter Barbara Schnitzler. Aber nicht nur hier lebt eine Schauspielerinnen-Dynastie (die die große Inge Keller, Schnitzlers Mutter, begründete) sozusagen auf der Bühne fort.
Das gilt auch für ein besonderes Schmankerl dieses Festspieljahrgangs. Frontal gegen die trübe Stimmung der Zeitläufte stemmt sich nämlich die schauspielernde Familie Thalbach mit dem „Raub der Sabinerinnen“. Diesem komödiantischen Denkmal für den sprichwörtlichen Theaterdirektor Striese, der sein Theater gegen jede Anfechtung am Leben erhält. In dem Falle ist die Rubrik Regie nur ein klein wenig übertrieben. Aber was Katharina Thalbach als Regisseurin mit sich selbst als Herr und Frau Striese (und als Kakadu), ihrer Tochter Anna (als Professorentochter Marianne und Dienstmädchen Rosa) und Enkelin Nellie (als Paula) sowie Markus Völlenklee, Richard Barenberg und Sven Scheele in den männlichen Rollen hier entfesselt, ist nicht weniger als ein beispielhaftes Striesedenkmal. Vor allem Katharina lässt – wie man so sagt – die Sau raus. Sie ist zum Brüllen komisch und man möchte keinen improvisierten Überspieler missen. Weder den Schnurrbart, der sich selbstständig macht, noch das vertauschte Manuskriptblatt. Die Jugend-Tragödie des Professors, die bei der Theatertruppe zur Parodie und zum Erfolg wird, ist genau das passende Stück zur oder besser gegen die Stunde!
Ganz anders auf der Höhe der Zeit hatte dieser Festspieltag begonnen. Im Kursaal fanden sich der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt Reiner Haseloff und der Theologe und Historiker Benjamin Hasselhorn zu dem ebenfalls zur Festspieltradition gewordenen literarisch-philosophischen Gespräch zusammen. Mit Moderator Manfred Osten wurde aus dieser Begegnung eines bekennenden Katholiken und evangelischen Theologen aber kein Streit, sondern letztlich ein (auch für Atheisten) hochinteressanter Diskurs über den Wandel und die Reichweite von Werten als Begründung für individuelles und politisches Handeln, bei dem man auch dem Regierungschef anmerkte, dass das für ihn zum täglichen Brot gehört. Etwas, was zum Licht dieses Festspieljahrgangs gehört.
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