23. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2020

Die EU besichtigt

von Erhard Crome

Die Auseinandersetzungen in der Europäischen Union um Haushalt, Corona-Hilfen und die Eingriffsmöglichkeiten der Unionsorgane in die Innenpolitik einzelner Mitgliedsstaaten spitzen sich gerade zu. Im Grunde geht es hier um die Zukunft der Union. Da ist es hilfreich, sich Analysen genauer anzusehen, die die Probleme auf eine grundsätzliche Weise beschreiben.

Jan Zielonka, Professor für Europäische Politik und Ralf Dahrendorf Fellow an der Universität Oxford, betont, dass er – 1955 in Polen geboren – noch den „Kommunismus“ erlebt hat. Er hat sein Buch über das EU-Europa – in der Form ein langer Brief an seinen verstorbenen Mentor Ralf Dahrendorf – mit „Konterrevolution“ überschrieben. Die „Revolution“ ist für ihn jene von 1989, sie hat die seither auf dem Kontinent, zumindest so weit die EU reicht, geschaffene Ordnung hervorgebracht: „liberale Demokratie und neoliberale Wirtschaft“, dazu „Migration und eine multikulturelle Gesellschaft“ sowie „politische Korrektheit“. Dabei geht Zielonka von einem sehr breiten Verständnis des Liberalismus aus, zu dem er außer den Liberalen im engeren Sinne auch die Sozial- und Christdemokraten zählt. Zu den „konterrevolutionären Rebellen“ rechnet er einerseits rechte Politiker wie Matteo Salvini, Marine Le Pen, Alexander Gauland, Nigel Farage, Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński, andererseits Linke wie Alexis Tsipras und Pablo Iglesias. Ihnen allen sei „gemeinsam: Sie sind gegen die Ordnung, die nach der Revolution 1989 geschaffen wurde“, und greifen deren „politische Schlüsselprojekte“ an: „europäische Integration, konstitutionellen Liberalismus und neoliberale Wirtschaft“.

Die herrschende politische und intellektuelle Elite will jedoch ihre eigene Verantwortung für die entstandene Lage nicht sehen. Stattdessen sei sie „allzu eifrig darauf bedacht, jegliche Kritik als ‚populistisch‘ abzutun“. Der Terminus ist in aller Regel abwertend gemeint, soll aber zugleich verschleiern, dass es um die Ablösung der seit 1989 herrschenden Eliten geht. Dabei sind sie selbst oft populistisch vorgegangen. „‚Evidenzbasierte‘ Argumentationen werden von Liberalen notorisch benutzt und missbraucht, um Regierungsprogramme und politische Maßnahmen zu rechtfertigen. Liberale Politiker vertrauen stark auf PR-Agenturen und Spindoktoren. Unbequeme Fakten werden entweder aus dem politischen Diskurs entfernt oder von ‚wissenschaftlichen‘ Beratern, die von der Regierung bezahlt werden, in Misskredit gebracht.“

Tatsächlich wurde der Liberalismus in den vergangenen dreißig Jahren „eine Ideologie der Macht und der Ermächtigung“. Im Europa der EU wurde Politik „zunehmend als eine Kunst technokratischer Verwaltung von Institutionen dargestellt“. Macht wurde an Institutionen delegiert, die Mehrheitsentscheidungen nicht unterliegen. Statt auf die Bürger zu hören, sollten die erzogen werden. Es hieß, „Experten würden die Interessen der Allgemeinheit am besten erkennen: Generäle, Banker, Händler, Juristen und natürlich die Führungskräfte der Regierungsparteien“. Dabei wurde die EU „zum Motor der Kooperation“ erklärt. „Die europäische Integration war immer ein Juwel in der liberalen Krone. Sie galt nicht nur als exemplarisches Projekt, sondern auch als Mittel zur Verbreitung liberaler Werte in Europa und darüber hinaus.“ Auch deshalb waren die herrschenden Eliten nie bereit, den erheblichen „Zielkonflikt zwischen Bürgerbeteiligung und Systemeffektivität“ zugunsten der Bürgerbeteiligung aufzulösen. Dabei wurden der Begriff und der Inhalt der Nation, die in Europa der Rahmen von Verfassungsordnung und Rechtsstaat ist, ausgehöhlt, transnationale Politik und Wirtschaft gefördert und zugleich „die nationalen Grenzen untergraben, ohne effektive transnationale Hoheitsorgane zu schaffen“.

Hier ordnet Zielonka auch den Euro ein. Er sollte den wirtschaftlichen Wohlstand seiner Mitgliedsstaaten mehren. Tatsächlich trat das Gegenteil ein: „Er verstärkte die Kluft und die Konflikte zwischen den Überschuss- und Defizitländern, den Import- und Exportländern und zwischen Nord und Süd.“ Das hat Zielonka 2018 geschrieben. Das Feilschen um das Zustandekommen des Corona-Pakets der EU im Sommer 2020 hat das in aller Deutlichkeit bestätigt. Damit wurde auch das deutsche Übergewicht wieder zu einem Thema der EU-Politik.

Am Ende häuften sich die ungelösten Probleme, die „offizielle Rhetorik“ in der EU und den EU-Staaten wurde immer aggressiver. Die etablierten Tabus infrage zu stellen, gilt als verantwortungslos, gar verrückt. „Die Mainstream-Parteien haben es nie ernsthaft in Erwägung gezogen, geschweige denn in Angriff genommen, die Macht der Zentralbanken, der Verfassungsgerichte, der EU und anderer Institutionen, die nicht an Mehrheitsentscheidungen gebunden sind, zu beschneiden.“ Damit haben sie „die Wähler effektiv eines Mitspracherechts in der Politik beraubt“. Wahlen werden „organisiert und zelebriert, vermitteln Wählern aber nicht das Gefühl, gehört und vertreten zu werden. Sie bringen zwar einen Wechsel der Regierungsparteien, führen jedoch kaum zu erheblichen Änderungen der Wirtschafts-, Kultur- oder Migrationspolitik, falls nicht Konterrevolutionäre siegen.“

Als in Ungarn (Orbán), Griechenland (Tsipras) und Polen (Kaczyński) genau dies geschah, „setzten die besiegten Liberalen auf die Macht ernannter Verfassungsrichter oder Zentralbanker, Entscheidungen oder Gesetze der neuen Regierung zu boykottieren oder aufzuheben. Die konterrevolutionären Politiker beeilten sich dagegen, diese nicht mehrheitsgebundenen Institutionen zu neutralisieren und mit ihren eigenen politischen Verbündeten zu besetzen.“ Hier tritt denn auch die EU als Institutionengefüge auf den Plan, um die Schwäche der Liberalen auf nationaler Ebene auszugleichen. In Griechenland mussten die linken „Konterrevolutionäre“ inzwischen das Feld räumen, die rechten in Ungarn und Polen bisher nicht.

Tatsächlich nähern wir uns nun jedoch dem Wesen der Auseinandersetzungen um den EU-Haushalt und den sogenannten „Rechtsstaatsmechanismus“. Zielonka hofft am Ende seines Buches auf einen „Neuanfang“ des Liberalismus, der etwas anderes ist als die Fortsetzung des Bisherigen.

Jan Zielonka: Konterrevolution. Der Rückzug des liberalen Europa. Campus Verlag, Frankfurt am Main/ New York 2019, 208 Seiten, 19,95 Euro.