Reisende des 18. Jahrhunderts berichten von einem merkwürdigen Brauch, dem sie auf einigen pazifischen Inseln begegneten. Bislang als tabu geltende Fetisch-Figuren tauchen plötzlich in einer Gerümpelecke auf, werden von ihren ehemaligen Anbetern bespuckt, geschmäht und sonstwie erniedrigt. Die Ursache für dieses Verhalten: Ihre magische Kraft stellte sich in dem einen oder anderen Falle als wirkungslos heraus. Sie hatten versagt, sie mussten bestraft werden. Für europäische Augen war das irgendwie befremdlich. Allerdings konnten Georg Forster & Co. nicht wissen, dass solche Riten einmal auch in Deutschland üblich werden sollten. Zumindest in der linken Bewegung wurden sie offenbar zur Alltagspraxis.
Über mehrere Jahrzehnte galt Sahra Wagenknecht als die Leitfigur der aufrechten Linken, die anders als die tonangebende Mehrheit der Funktionärsriege nicht um jeden Preis auf einen Ministersessel wollten. Zudem ist Wagenknecht belesen, eine fleißige Buchautorin – sie schreibt im Unterschied zum anderen Shooting Star der LINKEN sogar selber! –, entwickelte ein gewisses, in der Linken nicht unbedingt selbstverständliches, Theoriebewusstsein und machte bei laufenden Kameras zudem das, was man bella figura nennt. Als radikale Kapitalismuskritikerin gehörte sie zu den Leitfiguren der Kommunistischen Plattform (KPF) und der Antikapitalistischen Linken (AKL). Jeder ihrer Auftritte wurde mit entsprechendem Applaus verbreitet – die innerparteilichen Gegner schäumten regelmäßig auf. Das war auch gut so, denn wenn dich deine Feinde loben … Und dann schien sie auch noch zur – nach der Kanzlerin – beliebtesten Politikerin Deutschlands zu werden.
Damit ist jetzt Schluss. Endgültig. Denn anstelle von Karl Marx habe sie nun „den bräsigen Ludwig Erhard zum Säulenheiligen erhoben“. Sie findet die Einheit gut, und noch schlimmer: „Sie ist mental, finanziell und mit dem Wohnsitz im Westen gelandet.“ So formuliert es ein gewisser Sebastian Carlens in der Tageszeitung junge Welt. Am liebsten hätte er seine richtungweisenden Worte in den Fels gemeißelt. Aber Berlin ist leider auf Sand gebaut …
Für die richtig linken Linken ist so etwas ein politisches Todesurteil. Für die „richtigen Linken“ – das ist die Truppe um Klaus Lederer und die Wolf-Familie – ist sie sowieso schon immer ein parteilicher Betriebsunfall mit „k.w.-Vermerk“. Anlass für das Verdikt ist ein Interview, das Wagenknecht neulich dem Deutschlandfunk (igittigitt: West-Radio und Kalter-Kriegs-Sender!) gab. Im Gespräch mit Tobias Armbrüster äußert sie auf die DDR bezogen so verachtenswürdige Dinge wie „Ich wollte schon eine Wirtschaft, die marktförmig ist, in der es Wettbewerb gibt.“ Ähnliches schwebte am Ende auch dem guten alten Walter Ulbricht vor. Aber der war ja Breshnew sei Dank rechtzeitig genug zurückgetreten worden, so dass die führenden Genossen weiter tapfer den Kurs der Sieger der Geschichte halten konnten. Das ganze Interview enthält für Kenner Wagenknechtschen Denkens und Sprechens übrigens absolut nichts Neues oder Ungewöhnliches. Was ist ihr Fehler?
Ganz einfach, sie hat versagt. Anstatt die in den skurrilen Grabenkämpfen der Linkspartei zu Boden gegangene Fahne der richtig roten Bewegung aufzunehmen und sich wie Jeanne d’Arc – pardon, ich meine natürlich Rosa Luxemburg – an die Spitze zu setzen, hat sie’s vergeigt. Sie hielt sich an die Vereinbarungen des Neuen Westfälischen Friedens – und überließ die Partei „der Kipping“ und „dem Riexinger“. Bissig wurde sie nur, wenn die ihrerseits den falschen Vorgarten betraten … da wurde die Vorsitzende schon mal kurzerhand vom Mikrofon weggeschoben. Auch Aufstehen erwies sich als eine einzige Pleite, den Schritt zur Parteineugründung vollzog sie nicht. Die Fraktion dominierten am Ende die Jung-Bartschisten und der wiederauferstandene Gregor Gysi. Wagenknecht schob stattdessen irgendwelche gesundheitlichen Gründe vor und erklärte ihren Abgang. Unerhört. Ein Sündenfall ohnegleichen, eine gute Kommunistin stirbt auf der Barrikade! „Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme“, mindestens … Wir wollen zwar keine Regierungsbeteiligung, aber eine Bundeskanzlerin Sahra Wagenknecht, die hätten wir schon ganz gerne gehabt.
„Echt schade, wie aus einer glühenden Kommunistin eine Anhängerin der Marktwirtschaft und Ludwig Erhards werden konnte“, kommentiert eine gewisse Inge Höger den Vorgang. Die kennen sie nicht? Auch Höger kommt aus NRW – Wagenknechts Wahlkreis ist in Düsseldorf – , gehört zur AKL und war einige Zeit stellvertretende Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Deutschen Bundestag. Ihre politische Karriere startete sie 2004 mit 3,21 Prozent Wählerstimmen bei den Bürgermeisterwahlen in Herford. Seitdem bevorzugte sie Landeslisten und bekämpft den Zionismus. Wagenkecht konnte ihr und ihrem Klüngel lange Jahre gar nicht links genug sein. Das Stichwort „Erhard“ gab Carlens, Höger plappert nach. Schließlich ist die Presse der kollektive Organisator und Propagandist der Partei! Die richtige Presse natürlich. Die anderen sind gekauft.
Jetzt ergeht es Sahra Wagenknecht wie den abgedienten polynesischen Fetischen. Strafe muss sein. Wer ihren Sündenfall nachlesen möchte, hier ist der Link dazu.
Die Urteilsbegründung von Sebastian „Robespierre“ Carlens muss man nicht lesen. Den Weg zur Verdummung muss man nicht mitgehen. Sagt er selbst. Gespannt bin ich nur, ob die junge Welt die Rosa-Luxemburg-Skulptur des Bildhauers Rolf Biebl aus dem Redaktionsvorgarten entfernt. Deren Gesichtszüge sehen irgendwie wagenknechtisch aus. Aber vielleicht bindet ihr Inge Höger ein Palästinensertuch vor das Konterfei. Schließlich muss man auch den israelisch-zionistischen Imperialismus bekämpfen!
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