Als Kaiser Napoléon III. am 19. Juli 1870 Preußen den Krieg erklärte, ahnte niemand, dass er schon sechs Wochen darauf ein Gefangener der Deutschen sein würde. Nach der Niederlage der französischen Truppen bei Sedan und der daraufhin erfolgten Kapitulation hatte man ihn nach Kassel gebracht und in Schloss Wilhelmshöhe unter Arrest gestellt. In Paris verkündete die neue Regierung das Ende des Second Empire und proklamierte am 4. September 1870 die Dritte Republik. Doch damit war der deutsch-französische Krieg von 1870/71 noch keineswegs beendet …
Ein paar Jahre zuvor hatte Theodor Fontane im Auftrag von Rudolf von Decker, Verleger der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei in Berlin, bereits über den Schleswig-Holsteinischen Krieg sowie über die Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich berichtet. Nun sollte er über den Krieg gegen Frankreich schreiben. Lapidar vermerkte er im Tagebuch: „So wird es denn eine Trilogie: 1864, 66, 70.“ Ausgestattet mit Legitimationspapieren des preußischen Kriegsministeriums und einer Rot-Kreuz-Armbinde reiste Fontane am 27. September 1870 aus Berlin ab. Wenn die Reise so weiterginge, ließ er seine Frau Emilie ein paar Tage darauf wissen, dann sei sie „im höchsten Maße lehrreich, interessant und geradezu erhebend“. Aber schon am 6. Oktober musste er ihr mitteilen: „Seit gestern bin ich ein Gefangener und befinde mich bereits in der Mitte Frankreichs.“
Was war geschehen? Man kennt Fontanes Darstellung der Ereignisse, die er kurz nach seiner Freilassung unter dem Titel „Kriegsgefangen“ veröffentlichte und die der Aufbau Verlag jetzt in einer ansprechenden Neuausgabe vorgelegt hat. Das Buch ist immer noch spannend zu lesen, einzig der Untertitel „Erlebtes 1870“ verleitet bis heute dazu, den Text als realistischen Bericht zu interpretieren – was allerdings nur bedingt zutrifft. Gabriele Radecke und Robert Rauh wollten wissen, was damals wirklich passierte. Und so haben die beiden Fontane-Kenner umfangreich recherchiert und die dramatische Geschichte von Fontanes Inhaftierung und Rettung „erstmals aus zwei Perspektiven rekonstruiert: aus der Sicht des Gefangenen und der seiner Helferinnen und Helfer“. Ihrer anregenden und nicht nur Fontane-Liebhabern zu empfehlenden Darstellung liegen nicht nur bekannte und neu interpretierte Quellen zugrunde, es wurden vor allem bisher unveröffentlichte und nicht ausgewertete Briefe, Notizen und amtliche Dokumente herangezogen. So konnten zeitliche Abläufe korrigiert werden, und es stellte sich heraus, dass das für Fontanes Freilassung aktivierte Netzwerk umfangreicher als bisher bekannt war.
Zurück zu Fontane. Der verließ am 5. Oktober 1870 das von preußischen Truppen besetzte Gebiet und begab sich nach Domrémy, den Geburtsort der Jungfrau von Orléans. Dort wurde er, da man ihn laut seiner Darstellung „für einen verkappten preußischen Officier“ hielt, „in voller Jean[ne] d’Arc-Bewunderung“ an deren Denkmal aufgegriffen. Schon hier setzen Radecke und Rauh mit der Korrektur an: Die Festnahme erfolgte an anderer Stelle. In ihrem Vorwort betonen sie: „Fontane hat die Wirklichkeit modifiziert und gerafft, wenn es in sein poetisches Konzept passte. Und hat wohl nie damit gerechnet, dass der Wahrheitsgehalt seiner Aussagen jemals überprüft würde.“
Von Domrémy ging die Irrfahrt des Gefangenen nach Neufchâteau. Der innerlich scheinbar ruhige Fontane konstatierte: „Der übliche Gefängnisapparat, der Schemel, der Wasserkrug, das eiserne Bett machten mich lächeln. Ich sprach vor mich hin: alles echt. Das Ganze hatte zudem nichts Abschreckendes.“ Weiter ging es nach Langres, wo „hin und her verhandelt wurde, was man eigentlich mit [ihm] machen solle“. Am 11. Oktober kündigte man ihm eine erneute Verlegung an. „In zwölf Stunden hoffte ich in Besançon, in vierundzwanzig Stunden in Freiheit zu sein.“ Doch bald schon sollte Fontane merken: „Es war anders beschlossen.“
Noch immer voller Hoffnung betrat er am Nachmittag des 12. die auf dem Gipfel des Mont Saint-Etienne gelegene, seit 2008 zum Weltkulturerbe gehörende Zitadelle von Besançon: „Besançon, wie schon angedeutet, erschien mir lediglich als Etappe zurück in die Freiheit.“ Seine „Vorstellung von Nachmittagskaffee und einer Partie Sechsundsechzig“ löste sich jedoch alsbald in Luft auf. Fast drei Wochen brachte Fontane in der Zitadelle zu. Während dieser Zeit veränderte sich vor allem sein Blick auf die Franzosen. Der „Feind“ verhielt sich ihm gegenüber „verbindlich, rücksichtsvoll, zuvorkommend“, die französischen Mitgefangenen waren „liebenswürdig, gutherzig, neidlos“.
Endlich, am 15. Tag seiner Gefangenschaft, erreichte Fontane die Nachricht, dass sich das Kriegsgericht von der Wahrheit seiner Aussagen überzeugt habe. Da er aber, wie man seinen bis heute erhaltenen Papieren entnehmen konnte, mit zahlreichen preußischen Offizieren bekannt sei und zudem „militärische Augen“ hätte, „denen die Zustände und Vorgänge im Lande, die Befestigungen und Truppenbewegungen nicht entgangen“ waren, sei eine Entlassung unmöglich. Er werde, lautete die Entscheidung, „mit einer Anzahl badischer Gefangener, nach der Insel Oléron im Atlantischen Ozean transportiert“. Da sich der Erzbischof von Besançon für ihn verwandt habe, so der Kommandant, sei Fontane der Status eines „officier supérieur“ zugebilligt worden und er könne sich somit ungehindert auf der Insel bewegen.
Zehn Tage dauerte die Reise. Die mehr als 800 Kilometer lange Route führte über Lyon, Moulins, Guéret, Poitiers, Rochefort und Marennes hin zum Atlantischen Ozean. Auf der Île d’Oléron wurde Fontane am 9. November vom Kommandanten mit den Worten begrüßt: „Sie werden einen guten Stoff gewinnen und Ihr zukünftiger Biograph einen noch besseren.“ Von der Zitadelle, deren Reste seit 1929 unter Denkmalschutz stehen, blickte Fontane hinüber aufs Festland: „Es wetterte; ich hielt den Hut mit beiden Händen, und der Gischt sprang bis über die Brüstung. Aber ich atmete auf und sah nach Osten hin, wo mir die Heimat lag und die Freiheit.“
So gelassen dürfte er allerding nicht gewesen sein. Radecke und Rauh gehen davon aus, dass ihm spätestens auf der Atlantikinsel klar wurde, „dass seine Kriegsgefangenschaft länger dauern würde als befürchtet. Und dass die Initiativen zu seiner Freilassung offenbar ins Stocken geraten waren.“
Sonnabend, 26. November 1870: „Monsieur F., vous êtes libre.“ Die vom Vize-Kommandanten überbrachte Nachricht von der „Freilassung auf Ehrenwort“, die in „Kriegsgefangen“ zwar angedeutet, als Formulierung jedoch vermieden wurde, versetzte Fontane in Hochstimmung: „In Traum und Gedanken übersprang ich die Meilen und die Schwierigkeiten, die noch zwischen Le Château d’Oléron und der Königgrätzer Straße lagen.“
Sämtliche Rückreisemodalitäten wurden vom Militär geregelt. Der Abreisetag wurde auf den 29. November festgesetzt, gleichfalls wurde die über Rochefort, Bordeaux, Cette, Avignon, Lyon und Genf führende Route bestimmt. Weiter ging es über Basel und Frankfurt nach Berlin, wo Fontane am 5. Dezember 1870 eintraf.
Die Frage, wer schlussendlich zu seiner Befreiung beigetragen hatte, konnte Fontane bis an sein Lebensende nicht beantworten. „Uneinigkeit über diese entscheidende Frage“, das müssen auch Radecke und Rauh feststellen, „herrscht selbst in der Forschung, deren Vertreter sich gegenseitig Legendenbildung unterstellen.“
Zwischen dem 25. Dezember 1870 und dem 26. Februar 1871 erschien „Kriegsgefangen“ als Vorabdruck in dreizehn Folgen in der Vossischen Zeitung, und bereits Anfang März konnte Fontane die Buchausgabe an seine Freunde verteilen. Die wurde zwar kein Bestseller, aber dennoch ein Erfolg. Arnold Wellmer, der für die Wiener Neue Freie Presse schrieb, urteilte: „Das liebenswürdigste aller Kriegsbücher, fast wie ein Sonnenblitz zwischen all dem Pulverdampf und Kanonengebrüll und Menschenblut und Völkerelend in den anderen Büchern aus dem jüngsten Kriege.“
Der von Radecke und Rauh hervorgehobene Verzicht Fontanes auf jeglichen Patriotismus und Chauvinismus sowie seine vorurteilsfreie Darstellung der Franzosen verliehen und verleihen „Kriegsgefangen“ einen bemerkenswert aktuellen Charakter. Ganz in diesem Sinne schreibt Christine Hehle in ihrem Nachwort: „Die Erlebnisse der Kriegsgefangenschaft […] prägen den Blick des Erzählers der später entstandenen Romane auf die Ereignisse von 1870/71 […] Und vielleicht ist es dieser 1870 neu gewonnene freie Blick, der Fontanes Romane bis heute attraktiv macht.“
Fontane selbst resümierte ein Jahrzehnt nach Erscheinen von „Kriegsgefangen“: „Ich sehe klar ein, daß ich eigentlich erst bei dem 70er Kriegsbuche und dann bei dem Schreiben meines Romans [„Vor dem Sturm“ – M.I.] ein Schriftsteller geworden bin“.
Theodor Fontane: Kriegsgefangen. Erlebtes 1870 (mit einem Nachwort von Christine Hehle), Aufbau Verlag, Berlin 2020, 264 Seiten, 20,00 Euro.
Gabriele Radecke / Robert Rauh: Fontanes Kriegsgefangenschaft. Wie der Dichter in Frankreich dem Tod entging, edition q im be.bra verlag, Berlin 2020, 189 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: 1870/ 71, der deutsch-französische Krieg, Mathias Iven, Theodor Fontane