Georgien war 2018 Gastland der Frankfurter Buchmesse – eine Gelegenheit, die Literatur der Kaukasus-Republik kennenzulernen, denn viel war den deutschen Lesern aus dem kleinen Land nicht bekannt. Die Verlage brachten eine ganze Reihe von Neuerscheinungen – darunter Romanklassiker, aktuelle Literatur, Reisereportagen und Lyriksammlungen. Inzwischen ist der Buchmesse-Schub leider wieder verpufft.
Eine profunde Kennerin der aus westlicher Sicht „Terra incognita“ ist die Slawistin Kristiane Lichtenfeld, die auch zahlreiche Werke der polnischen, russischen und kasachischen Literatur übersetzt hat. Seit einem autodidaktischen Studium des Georgischen und mehreren Aufenthalten in Tbilissi in den 1980er Jahren gilt ihr besonderes Engagement der georgischen Literatur. Ihre Erfahrungen stellt sie nun in der Neuerscheinung „Georgien zu Wort kommen lassen“ vor. In ihre Bestandsaufnahme hat sie zehn georgische Buchtitel aufgenommen, die sie in den letzten Jahren übersetzt hat und die noch im Buchhandel erhältlich sind. Es ist ein breites Spektrum, das vom historischen Roman über Erzählungen bis zur Lyrik reicht.
Den Anfang macht der Prosaband „Die vertauschte Braut“ des als „Vater der Nation“ verehrten Ilja Tschawtschawadse. Seine Erzählungen vermitteln ein realistisches Gesellschaftsbild des georgischen Adels und der Bauernschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Erstübersetzung von Lichtenfeld war vor der Wende als Beginn einer multinationalen Bibliothek geplant.
Der vor Witz und Ironie sprühende Gaunerroman „Das fürstliche Leben des Kwatschi K.“ von Micheïl Dshawachischwili entstand 1924 – drei Jahre nach Georgiens gewaltsamen Anschluss an Sowjetrussland. Der Anti-Held Kwatschi Kwatschantiradse ist bis heute eine der Lieblingsfiguren der Georgier. Lichtenfelds Übersetzung erschien erstmals 1986 im Berliner Verlag Volk und Welt, während es eine russische Verlagsausgabe erst 1999 gab.
Mit der Übersetzung von ausgewählten Gedichten von Galaktion Tabidse (1891–1959) unternahm Lichtenfeld den Versuch einer Annäherung an die georgische Lyrik, die ihre eigenen Bilder, Klänge und Rhythmen hat.
Der Auswahlband „Niemals hat der Dichter eine Schönere erblickt …“ war eine Liebeserklärung des georgischen Schriftstellers Iosseb Grischaschwili an die Hauptstadt Tbilissi, deren Buntheit und Vielfalt an Traditionen, Liedern und Gedichten er in zahlreichen Feuilletons festhielt. Illustriert wurde der Band mit Motiven des Georgiendeutschen Oskar Schmerling.
Otar Tschiladse gilt als der bedeutendste georgische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, der als Lyriker, Dramatiker und Romancier für die Eigenständigkeit Georgiens eintrat. Lichtenfeld hat in den zurückliegenden Jahren mehrere seiner Bücher übersetzt – 2018 mit „Der Korb“ seinen letzten Roman, der zugleich eine Familiengeschichte und eine Reise durch die georgische Geschichte ist. Die Tschiladse-Übersetzungen von Lichtenfeld erschienen im Berliner Verlag Matthes & Seitz.
Neben den Buchvorstellungen wird die Übersetzer-Bilanz von Lichtenfeld durch zahlreiche Essays, Zeitungsartikel, Rezensionen, Klappentexte und andere Dokumente ergänzt. Übrigens hat der georgische Schriftstellerverband die Leistungen von Kristiane Lichtenfeld 1999 mit dem Matschabeli-Übersetzerpreis gewürdigt.
Kristiane Lichtenfeld: Georgien zu Wort kommen lassen, Nora Verlagsgemeinschaft Berlin 2020, 330 Seiten, 29,00 Euro.
Schlagwörter: Georgien, Kristiane Lichtenfeld, Literatur, Manfred Orlick