Vor 30 Jahren betrat Namibia als unabhängiger Staat die Weltbühne, in der Republik Südafrika begann die Endphase des Apartheid-Regimes; vier Jahre später ging der ANC als Sieger aus den Wahlen hervor. Am Ende von Kolonialismus und Apartheid im Süden Afrikas hatte die DDR als aktiver Unterstützer der Befreiungsbewegungen keinen geringen Anteil. Aber auch für Deutschland bedeutete 1989/90 eine Zeitenwende. Als in Namibia vom 7. bis 11. November 1989 Wahlen stattfanden, fiel die Berliner Mauer. Also eine „doppelte Zeitenwende“, wie der Titel des Buches von Hans-Georg Schleicher lautet. Er leitete damals die Diplomatische Beobachtermission der DDR in Windhoek. Über viele Jahre war er als DDR-Diplomat, darunter Botschafter in Simbabwe (1983-88), in die afrikanischen Angelegenheiten involviert. Nach dem Ende der DDR und damit seiner diplomatischen Tätigkeit – ein Prozess, auf den der Autor ausführlich eingeht, blieb er der Region weiterhin eng verbunden, konnte die dortigen Entwicklungen als Wahlbeobachter und Berater sowie auf vielen Forschungsreisen weiter verfolgen. Dabei halfen ihm nicht zuletzt seine vielfältigen Kontakte zu führenden Vertretern dieser Länder, bis hin zu Präsidenten Südafrikas und Namibias. Dem Autor geht es sowohl um die Aufarbeitung der Geschichte des Befreiungskampfes im südlichen Afrika, einschließlich der Aktivitäten beider deutscher Staaten, als auch die spätere Rolle der nun regierenden Befreiungsbewegungen.
Die internationale Lage gegen Ende des Kalten Krieges begünstigte 1989/90 ein Miteinander und eine beträchtliche Ost-West-Kooperation im Interesse einer weitgehend konfliktfreien Lösung des Namibia-Problems. So kooperierten nicht nur die diplomatischen Vertreter beider deutscher Staaten in Windhoek; auch bei gemeinsamen Patrouillen der UN-Übergangshilfsgruppe (UNTAG) im namibischen Ovamboland demonstrierten Bundesgrenzschutz und DDR-Volkspolizei deutsch-deutsche Kooperation. Nachdem Schleicher am 21. März 1990 offiziell die DDR-Botschaft in Windhoek eröffnet hatte, die letzte Eröffnung einer DDR-Vertretung weltweit, verließ er im April den jungen Staat. Zuhause stieß er auf die neuen Realitäten: Nach dem 3. Oktober 1990 wurde der diplomatische Dienst der DDR „abgewickelt“. Mit vielen seiner ehemaligen Kollegen gründete Schleicher den Verband für internationale Politik und Völkerrecht (VIP), der sich zunächst vor allem für die sozialen Belange der Berufsgruppe einsetzte und später eine aktive Rolle bei der Diskussion außenpolitischer Themen spielte. Als Koordinator eines Projekts des Berliner Begegnungsforums trug er zur Verständigung mit und zwischen den in Deutschland stationierten ausländischen Militärs bei. Sein wissenschaftlicher Neuanfang fand seinen Ausdruck in einer Vielzahl von Studien und Veröffentlichungen, darunter die Mitarbeit an einem Forschungsprojekt zur Politik der beiden deutschen Staaten in Afrika und am Aufbau eines Spezialarchivs zur Geschichte des antikolonialen Widerstands und des Befreiungskampfes Namibias.
Als einziger ostdeutscher Wahlbeobachter im UN-Team verfolgte der Autor 1994 die Wahlen in Südafrika. Sein Einsatzgebiet in der Provinz Oranje Freistaat war ein Bollwerk weißer konservativer und rechtsextremistischer Kräfte, die einen separaten weißen „Volksstaat“ anstrebten. Trotz allem erwiesen sich die Wahlen als erfolgreich und frei. Mit 62,6 Prozent war der ANC zwar die stärkste, jedoch nicht überwältigend dominierende Partei. Fünf Jahre später war Schleicher wieder in offizieller Mission im Lande – als internationaler Berater für die Unabhängige Wahlkommission Südafrikas in der Provinz KwaZulu-Natal, wiederum eine Problemregion, wo die Inkatha-Partei viele Jahre lang mit Unterstützung des Apartheid-Regimes einen erbitterten Krieg gegen den ANC geführt hatte. Trotz fast täglicher Mordanschläge verlief der Wahlkampf fast normal. Inkatha erreichte 41 Prozent der Stimmen, gegenüber den 39 Prozent des ANC. Landesweit bestätigte sich jedoch die Dominanz des ANC, der aber erneut unter einer Zwei-Drittel-Mehrheit blieb.
Die Apartheid war relativ friedlich überwunden worden, der Übergang zur Demokratie erreicht. Im Transitionsprozess spielte Nelson Mandela eine große und dabei wohl auch verklärende Rolle, was zeitweise manches Problem überdeckte, insbesondere die weiterhin bestehende sozioökonomische Kluft zwischen der schwarzen Bevölkerungsmehrheit und einer reichen Minderheit. Verändert hatten sich vor allem die politischen Bedingungen und Machtverhältnisse – ein Elitenkompromiss zwischen ANC und der alten Wirtschaftselite. Weitergehende gesellschaftspolitische und ökonomische Zielstellungen des Befreiungskampfes blieben unerfüllt, aber nicht vergessen. Korruption und persönliche Machtkämpfe nahmen zu. Eingehend analysiert Schleicher die Politik der auf Mandela folgenden Präsidenten Thabo Mbeki und Jacob Zuma, die er bereits in Simbabwe kennengelernt hatte.
Namibia blieb für Hans-Georg Schleicher weiterhin ein Schwerpunkt. Trotz schwieriger Ausgangsbedingungen sieht er den Weg des Landes optimistisch. Es habe eine erstaunlich stabile wirtschaftliche Entwicklung genommen. Allerdings sei das wie in Südafrika ungenügend mit der Verbesserung der Lebensverhältnisse für die schwarze Bevölkerungsmehrheit verbunden. Die namibische Demokratie schätzt der Autor als gut entwickelt ein. Gewaltenteilung, Pluralismus, freie Meinungsäußerung und eine unabhängige Gerichtsbarkeit seien fast selbstverständlich. Ein Manko bleibe die vor allem hausgemachte Schwäche der Opposition. Als Wahlbeobachter in der nordnamibischen Region Caprivi konnte sich Schleicher 1999 davon überzeugen, registrierte aber auch die dortigen sezessionistischen Bestrebungen. Eindeutig plädiert er für die Anerkennung des Genozids im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika und eine offizielle deutsche Entschuldigung.
Angesichts der enormen Herausforderungen einer sozioökonomischen Transformation im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung treibt Schleicher wie auch andere Beobachter der Entwicklungen im südlichen Afrika die Frage nach einer demokratischen Alternative zur selbstzufriedenen Politik einer „Befreiungsbewegung an der Macht“ in Gestalt von SWAPO und ANC um. Bei aller Empathie mit den nun regierenden Befreiungsbewegungen spart der Autor nicht mit Kritik an solchen Erscheinungen wie Ineffizienz des Staatsapparates, Korruption und politischem Nepotismus.
Als DDR-Diplomat war der Autor beteiligt an der Zusammenarbeit mit Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika. Die Unterstützung reichte vom Druck der Zeitschriften von ANC und SWAPO bis hin zur militärischen Ausbildung. So wurden in einem streng geheimen Camp nahe der mecklenburgischen Stadt Teterow Kämpfer der ANC-Militärorganisation ausgebildet. Kein Wunder also, dass die DDR und ihre Vertreter bei den Befreiungsbewegungen und ihren Führungen bis hin zu den späteren Präsidenten Namibias und Südafrikas hohes Ansehen genossen. Trotz internationaler Sanktionen gegen das Apartheid-Regime waren damals westdeutsche Konzerne in Südafrika tätig, wurden entgegen einem UN-Embargo Waffen an Südafrika geliefert.
Mit seinem Buch erweist sich der Autor als profunder Kenner der Region.
Hans-Georg Schleicher: Doppelte Zeitenwende. Der Süden Afrikas und Deutschlands Osten, WeltTrends – Potsdamer Wissenschaftsverlag, Potsdam 2020, 227 Seiten, 19,85 Euro.
Schlagwörter: DDR, Deutschland, Hans-Georg Schleicher, Hubert Thielicke, Namibia, Südafrika