23. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2020

Bertha Rother und Maler Graef

von Dieter Naumann

Beim Studium historischer Rügen-Reiseführer fiel im Zusammenhang mit der Gründung des ersten Binzer Hotels (C. F. „Potenberg’s Hotel“, 1876, „mitten im Dorf, dicht am fischreichen Schmachtersee“) die zunächst wenig spektakuläre Bemerkung im Reiseführer von Schuster für 1898 auf, dass hier „s. Z. Professor Gräf mit Bertha Rother (logierte)“. Einige Jahre später heißt es in Schusters Führer durch das Ostseebad Binz von 1912, Graefs am Ufer des Sees gemaltes „poesiedurchtränktes Gemälde ‚Das Märchen‘“ habe „leider durch das Auftreten seines Modells, der bekannten Berta Rother, eine unangenehme Berühmtheit erlangt“. Grund genug, die Fakten zu recherchieren:

Gustav Graef (1821–1895) war seinerzeit ein anerkannter Historien- und Porträtmaler, Mitglied der Preußischen Akademie der Künste; einige seiner Bilder finden sich im Berliner Alten Museum und in der Alten Nationalgalerie. Ab 1862 konzentrierte sich Graef vor allem auf idealisierte weibliche Porträts, womit er laut Meyers Großem Konversations-Lexikon „auf einen seinem Talent nicht zusagenden Abweg geriet“. Im August 1879 begab sich Graef mit seiner Familie nach Saßnitz, um auf Rügen einen geeigneten Ort für das erwähnte Gemälde zu finden. Diesen Ort sah er im Schmachter See bei Binz, an dem er sein blutjunges Modell, Bertha Rother, im Freien nackt Modell stehen ließ; das Bild selbst wurde in Berlin gemalt.

Bertha Rother, 1864 unehelich in Berlin geboren, hatte ganze sechs Wochen die Schule besucht und wurde von ihrer Mutter schon im Alter von sechs Jahren zu Künstlern, mit vierzehn Jahren auch zu Gustav Graef, geschickt, um für Aktbilder Modell zu stehen und – wie ihre beiden jüngeren Schwestern – auf diese Weise zum Unterhalt beizutragen.

Gustav Graef, der großmütig und vertrauensselig alles für sein Modell tat, um es an sich zu binden, zahlte nicht nur überhöhte Gelder für das Modellstehen, sondern unterstützte auch Mutter Rother bei deren vergeblichen Versuchen, durch Zimmervermietung und Eröffnung verschiedener Geschäfte wirtschaftlich auf einen grünen Zweig zu kommen.

Ausgangspunkt des späteren Prozesses gegen Graef und die Rothers war das Verfahren gegen eine Frau Hammermann und ihren Komplizen wegen versuchter Erpressung. Auch Mutter Hammermann hatte ihre minderjährige Tochter zu Gustav Graef als Nacktmodell geschickt und von ihm eine erhebliche Geldsumme gefordert, weil er das Kind angeblich unsittlich berührt hätte. Graef notierte in diesem Zusammenhang in sein Tagebuch: „Helene Hammermann hat sich heute einer wahnsinnigen Verdächtigung gegen mich schuldig gemacht, ich muß meinen Rechtsbeistand darüber befragen.“ In der Verhandlung bestritt der Maler unter Eid, unsittliche Handlungen an seinem Modell vorgenommen zu haben. Die Mutter und ihr Komplize wurden wegen erwiesener Erpressungsversuche zu Haftstrafen verurteilt. Während des Verfahrens ließ der Anwalt der Hammermann zwei angebliche Zeugen laden, die – wohl um die Glaubwürdigkeit von Graef zu erschüttern – behaupteten, der Maler habe ein intimes Verhältnis mit Bertha Rother gehabt. Graef bestritt auch dies unter Eid, was Grundlage war für die spätere Anklage gegen ihn, einen Meineid begangen zu haben. Dass Professor Graef viel im Hause der Rothers verkehrte und für die Familie erhebliche Geldopfer brachte (immerhin wurden Schuldscheine Frau Rothers über 32.995 Mark gefunden), die Tatsache, dass Bertha verhältnismäßig gut wohnte, Graef verschiedentlich in anderen Städten aufsuchte und auf seine Veranlassung dramatischen Unterricht empfing (Der Theateralmanach führte sie ab 1883 als „Soubrette und Liebhaberin“ an den „Vereinigten Stadttheatern von Burg und Brandenburg“) – alles das vermochte man sich selbst in Künstlerkreisen nur dahingehend zu erklären, dass Bertha Professor Graefs Geliebte sein müsse.

Vom 28. September bis zum 7. Oktober 1885 wurde schließlich nach siebenmonatiger Untersuchungshaft ein Prozess verhandelt, der zu den denkwürdigsten der damaligen Zeit zu rechnen ist und in der Literatur teilweise als „Berlins erster Pornographie-Prozeß“ tituliert wird. Schriftsteller und Journalist Paul Lindau registrierte neben den vier Angeklagten (außer Graef die Mutter und beide Töchter Rother) fünf Anwälte zur Verteidigung, zwei Staatsanwälte und außer den gewöhnlichen zwölf Geschworenen noch zwei Ersatzgeschworene, ungefähr neunzig, überwiegend aus fragwürdigen Milieus stammende Zeugen sowie sechs Sachverständige. Die Hintergründe und der Verlauf des mit Intrigen, Lügen, gefälschten Dokumenten und Denunziationen durchsetzten Prozesses, der mit dem Freispruch der Angeklagten endete, können und sollen hier ebenso wenig beschrieben werden wie die unterschiedlichen Reaktionen auf Prozess und Urteil, etwa die 1885 in der National-Zeitung geführten Auseinandersetzungen zwischen dem Journalisten und Kritiker Karl Frenzel und Staatsanwalt Max Heinemann.

Was ist aus den Protagonisten nach dem „Skandalprozess“ geworden?

Das Binzer „Potenberg’s Hotel“, in dem Graef kurzzeitig logierte, wird in späteren Reiseführern mit Bemerkungen charakterisiert, wie „antisemitisch, auch Christen, welche äußerlich für Juden gehalten werden können, seien vor diesem Hause gewarnt“ oder „jüdischer Besuch verbeten“.

Das Bild „Das Märchen“ (auch „Die Meerjungfrau“ betitelt), zu dem Graef Bertha Rother Modell stehen ließ, zeigt ein nacktes, aus dem Schilf steigendes und zur Sonne schauendes junges Mädchen, das gerade seine Fischhaut abgestreift hat, auf die sich ein Rabe (wohl ein verwunschener Prinz) stürzt. Das Bild, dass auf Berliner und internationalen Kunstausstellungen Aufsehen erregte – in Basel verweigerte der dortige Kunstverein im Oktober 1886 die Ausstellung des Gemäldes in der Kunsthalle, statt dessen konnten es die Bürger im Stadtcasino „mit einer Mischung aus Abscheu und Lust am Skandal“ betrachten – war zeitweilig polizeilich verboten. Im Oktober 1885 soll es ein Pariser Kunsthändler für 55.000 Mark erworben haben.

Gustav Graef hatte bereits kurz nach seinem Freispruch seine Sicht auf den Prozess in einem Manuskript (Nach drei Jahren) niedergeschrieben, was nie veröffentlicht wurde.

Über Bertha Rother berichteten die Bündner Nachrichten am 12. Dezember 1888, sie habe vor einiger Zeit von ihrem Bräutigam, dem Sohn eines reichen Wiener Bankiers, gegen Verzicht auf das erhaltene Eheversprechen ein Rittergut in Mecklenburg erhalten. „Die Dirne ist damit Patronesse der Schulen und Kirchen auf ihrem Besitz geworden; heirathet sie, so wird ihr Mann Mitglied der Ständeversammlung.“ Laut Berliner Volkszeitung habe sie als Gutsherrin von Flessenow dem Großherzog geschworen, „treu, hold und gewärtig“ zu sein. 1896 soll sie auf Helgoland einen Berliner Kaufmann geheiratet haben, der ihren Besitz verprasste. Am 11. Mai 1896 befasste sich die deutschsprachige Indiana Tribüne (Indianapolis) mit der Rother, die zunächst als Kassiererin in den Reichs-Hallen, dann als „Hebe“ im Café Schilling und „anderen von der Lebewelt frequentirten Localen Berlins“ debütiert habe und schließlich unter anderen Opfern „einen Hauptgimpel in der Person eines österreichischen Adeligen“ fand, der ihr vor seinem finanziellen Ruin ein Gut in Mecklenburg kaufte. Bertha sagte jedoch die Einförmigkeit des Landlebens nicht zu, sie vertauschte das Gut mit einer Villa und diese bald darauf mit wertlosen Börsenpapieren, ihr Liebhaber wurde unter Kuratel gestellt. In den letzten drei Jahren habe sie als Frau Emma Steltzer in New York gelebt, sei inzwischen aber mit einem anderen Mann nach Kanada durchgebrannt. In der Neujahrsnacht 1913 soll die inzwischen völlig verarmte Rother „mit gräßlichen Verletzungen am Unterleib“ in ein Berliner Krankenhaus eingeliefert worden und dort verstorben sein. Sie sei auf dem Armeleute-Kirchhof in Buch begraben, ein Unbekannter habe ihr 15 Jahre später einen an „Das Märchen“ erinnernden Grabstein gestiftet.