23. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2020

„Strukturelle Probleme“

von Waldemar Landsberger

Seit Monaten wird in diesem Lande über „strukturelle Probleme“ in Bundeswehr und Polizei geredet, die auf eine Nazi-Affinität eines Teils des respektiven Personals hinauslaufen. Gemeint ist, bereits zuvor ideologisch entsprechend eingenordete Nazis würden sich zum Dienst an der Waffe melden. Nun müssten Gesinnungsüberprüfungen, die Militäraufklärung und der Verfassungsschutz einschreiten, um die entsprechenden Personen herauszufiltern und aus dem Dienst am freiheitlich-demokratischen Staatswesen zu entfernen.

Allerdings scheint nicht sicher, dass das Problem so zutreffend eingegrenzt ist. Unstrittig ist, dass bekennende Neonazis, „Reichsbürger“ und demokratiefeindliche Rechtsextreme in den bewaffneten Organen des bürgerlich-demokratischen Rechtsstaates nichts zu suchen haben und dass der sich vor entsprechender Infiltration schützen muss. Das setzt aber voraus, dass es klandestine nazistische Strukturen gibt, die „ihre Leute“ zielstrebig in die bewaffneten Einrichtungen dieses Landes schicken. Das konnte bisher niemand schlüssig nachweisen.

Insofern ist das erste „strukturelle Problem“, dass das Personal sich regelmäßig „nicht-links“ rekrutiert. Netzaffine Menschen mit Zöpfen, linke Pazifisten und Umweltschützer, denen das Schicksal der Kreuzkröte wichtiger ist als das eines Obdachlosen am Berliner Ostbahnhof, gehen gewöhnlich weder zur Bundeswehr noch zur Polizei. Deshalb bleiben dort die nicht-linken Bewerber unter sich. Bei allen Regierungsbeteiligungen auf Landesebene haben weder Grüne noch Linke jemals das Innenressort übernommen. Sie waren daher auch noch nie für diesen Politikbereich verantwortlich, sondern haben immer nur an der parlamentarischen Seitenlinie gestanden und queruliert.

Das eigentliche strukturelle Problem dagegen ist das des entsprechenden Einsatzfeldes. Gerade wurde ein neues Buch von Sönke Neitzel, der den Lehrstuhl für „Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt“ an der Universität Potsdam innehat, angekündigt. Es trägt den Titel: „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“. Neitzel meint, ein Leutnant des Kaiserreichs, ein Offizier der Wehrmacht und ein Zugführer der Task Force Kunduz des Jahres 2010 haben mehr gemeinsam als wir glauben. Soldaten würden der Binnenlogik des Militärs folgen, sie sollen kämpfen – und auch töten. Das gelte für die großen Schlachten im Ersten Weltkrieg, für den verbrecherischen Angriffskrieg der Wehrmacht, aber auch für die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Man müsse, so Neitzel, das Spannungsfeld zwischen Politik, Gesellschaft und Militär neu durchmessen und das ambivalente Verhältnis der Deutschen zu ihrer Armee neu bestimmen.

Die Forderung der Bundesregierung, die Soldaten der Bundeswehr im kriegerischen Auslandseinsatz sollten sich keinesfalls auf die Wehrmacht beziehen, dagegen aber auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung, ist zunächst politisch korrekt, trifft aber nicht die Schnittmengen in Bezug auf das militärische Handwerk und nicht die Tatsache: dort wird gestorben, und der dazu Bereite muss wissen, wofür. Dem kann man nur entrinnen, wenn man darauf besteht, dass keine deutschen Soldaten in Kriegseinsätze geschickt werden. Es sei denn, zur Landesverteidigung.

Vor einigen Jahren wurde im Blättchen auf einen Band hingewiesen, den junge Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr über ihre Auslandseinsätze geschrieben hatten („Personalwechsel“, Das Blättchen No. 19/2016). Sie reflektierten ihre Erfahrungen mit „der Truppe“ und den Auslandseinsätzen. Hier sahen sie ausdrücklich ein Spannungsfeld zu „unserer hedonistischen Gesellschaft“: „Der frische Rekrut kommt eher aus einem Umfeld, in dem Selbstverwirklichung, Konsumlust, Pazifismus und ein gewisser Egoismus die Essenz gesellschaftlicher Werte bilden. Das mag für die Gesellschaft nicht zwingend negativ sein, aber eine Armee kann unter diesen Rahmenbedingungen nicht funktionieren. Eine Armee sollte bewusst einen Gegenpol dazu darstellen.“ Es sei nicht Aufgabe der Armee, das Volk umzuerziehen oder „die Gesellschaft grundlegend zu verändern“. Zum Soldatsein jedoch gehörten Werte wie Mut, Treue und Ehre. Es brauche einen „Stolz, für Werte und Grundsätze einzutreten, welche einen permanenten Gegenpol zu unserer Gesellschaft bilden“.

Das Problem der „postheroischen Gesellschaft“ sei eine „Herausforderung“ für das Militär. Nach zwei Weltkriegen sei die deutsche Gesellschaft „in weite geistige Distanz zu einer ideologischen Erhöhung von Patriotismus und Opferbereitschaft getreten. Wo frühe Vorgänger der bundesdeutschen Gesellschaft die Verehrung des Opfers im Namen des Vaterlandes, dem Sacrificium, als zentrale Quelle sozialen Zusammenhalts praktizierten, ist heutzutage eine sehr misstrauische Haltung gegenüber jedem kriegerischen Altruismus zu beobachten.“ In der postheroischen Gesellschaft werden Aspekte des Krieges, ja der Krieg „nicht mehr akzeptiert“. Das rühre „teils aus einer grundsätzlich dekadenten Haltung […], teils aus einem Misstrauen gegenüber öffentlichem Altruismus. Der Krieg und damit auch die Konflikte, in welche die Bundeswehr verstrickt ist, sind jedoch alles andere als angepasst an diese Veränderung der Gesellschaft.“ Die jungen Offiziere, die dieses Buch verfasst hatten, betrachteten ihr Soldatsein als einen „permanenten Gegenpol“ zu der real existierenden Gesellschaft, in dem ein eigener Wertekanon gilt, und sahen die Bundeswehr als „parallele Gesellschaft“. Zugleich wird die (zivile) Mehrheitsgesellschaft als „dekadent“ wahrgenommen, der gegenüber man sich überlegen fühlt. Man ist prospektiver „Held“ und steht als solcher jenseits des Misstrauens der Dekadenten.

Jetzt wäre die Frage zu stellen, ob und inwiefern dies bei der Polizei ähnlich ist, dass es ein korps-mäßiges Überlegenheitsgefühl gegenüber der dekadenten Alltagsgesellschaft gibt, die nur zu ordnen ist, wenn sie das tun. Gerade kommt die Mitteilung, der Polizei-Nachwuchs sei nicht rechtsradikal, wenn er seinen Dienst antrete, die Radikalisierung finde im Dienst statt. Die Stadt Essen zum Beispiel, die jetzt im Fokus steht, ist eine Stadt mit Scharen von muslimischen Frauen mit Kopftuch, unverschämten jungen Männern aus dem Nahen Osten, die keinerlei Achtung vor deutschen Polizisten haben, und mit Clan-Strukturen. Polizisten verhaften die Missetäter, müssen aber zuschauen, wie deutsche Gerichte sie wieder freilassen. Was soll ein ursprünglich ideologisch unbedarfter junger Polizist dann in Bezug auf seine eigene Motivation denken? Nazismus als ideologische „Kompensation“ ist natürlich völlig abwegig, erscheint aber offenbar als wirrer Ausgleich für Alltagsfrustration.

Eine strukturelle Kompensation bietet übrigens die Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG): Wenn türkischstämmige Kontrolleure, meist gut durchtrainierte junge Männer, zur Fahrscheinkontrolle in den Zug kommen, werden die zuvor sehr vorlauten türkischen oder arabischen Jugendlichen sehr kleinlaut.