23. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2020

Querbeet 

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Gitarre, Hut und Hüftschwung von Dean Reed, dazu fünf furzende Iphigenien im Hochzeits-Tüll…

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Es ist ein Elend mit den Iphigenien von Aischylos bis Goethe: Sind sie doch untertänig, opferbereit, duldsam und noch dazu jungfräulich und literarisch hochtrabend. Schwer anschlussfähig heutzutage, diese männlichen Kopfgeburten. Umso erstaunlicher, dass gerade die Berliner Volksbühne sich ihrer annimmt, vornehmlich der von Euripides: „Iphigenie in Aulis“.

Ihre Story in groben Zügen geht so: Das Kriegsheer der Griechen, unterwegs nach Troja, sitzt durch Windstille fest in der Bucht von Aulis. Die Göttin Artemis jedoch lässt erst dann wieder blasen, wenn Feldherr Agamemnon (Susanne Wolff) seine Tochter Iphigenie (Vanessa Loibl) schlachten lässt. Mutter Klytaimnestra schimpft zwar (Paulina Alpen), doch das Mädel fügt sich brav. Und stilisiert sich dazu als stramme Heldin: Ohne tödlichen Heroismus kein Sieg der Griechen; so viel Opfer müsse sein.

Die Location der familiären Auseinandersetzung zu Aulis ist ein luftiger, blumengeschmückter Tempel. Ein Idyll (Bühne: Jana Wassong), getaucht in bonbonfarbenes Licht, umspült von einem Planschbecken, versorgt mit Telefon und dekoriert mit einem entzückend unterhaltsamen Drei-Damen-Orchester (Bassklarinette, Posaune, Drums). Damit ist klar: So ganz ernst nimmt die Regisseurin Lucia Bihler die hochmögende Geschichte von klein-mädchenhafter Sterbelust und Selbstverleugnung schon mal nicht. Von ein paar scharfen O-Tönen des Euripides abgesehen, kaspert man sich fern jeglicher Ideologiekritik mit Trallala, Telefonieren, Slapstick und Witzeleien durch den Plot.

Doch das ist ja bloß das Vorspiel der ganzen Veranstaltung, die da heißt „Iphigenie. Traurig und geil im Taurerland“. Oder anders gesagt: Es ist der erste Teil eines „neomythologischen Diptychons“, das Lucia Bihler, Teresa Schergaut und Dramaturgin Hannah Schünemann sich ausgedacht haben zusammen mit der im Netz gerade wahnsinnig erfolgreichen Wiener Wahnsinnsautorin Stefanie Sargnagel – manche sagen auch: Dichterin der Wiener-Kaffehauskloake.

Denn jetzt erst, im zweiten Teil, geht’s richtig zur Sache: Mit Sargnagels nicht unintelligentem, dafür rabiaten, heftig aus Heutigem kommenden Schlag gegen den Mythos. „Nach Aischylos, Euripides, Racine, Schiller und Goethe ist es Zeit für eine Kette rauchende, ungewaschene Weltikone, deren Schritt nach Brie riecht.“

Das Tempelchen ist nun nicht mehr pastellfarben, sondern wird von Neonlichtern grell umblitzt. Wenn es zuvor beim halbwegs gepflegten Griechen-Trash noch entfernt nach Moschus duftete, dann stinkt es jetzt ordentlich nach Käse. Und die zuvor himmlisch säuselnde Damenband dreht nun furios kratzend auf.

War man vorher, im Euripides-Mythos, zumindest ein ganz kleines bisschen hingegeben traurig, so ist man jetzt, unserer Zeit entsprechend, widerständig geil – leider nicht soo geil wie vermutet.

Immerhin, Iphigenie hat sich nunmehr verfünffacht (Vanessa Loibl, Susanne Wolff, Paulina Alpen, Emma Rönnebeck, Teresa Schergaut) für den revuehaften Auftritt als Atriden-Girlies im aufbauschenden Hochzeitstüll. So tobt denn eine weiße Wolke an der Rampe und schüttet kübelweise Fäkal-Sprech gegen jedwedes Patriarchale („Scheiße, Scheiße, Scheiße!) ins Publikum. Und dazu passend ein Lob des Furzes. Das die zynisch zotigen Emanzipations-Enthusiastinnen gleich mal ordentlich der Reihe nach akustisch durchexerzieren.

Zur Untermalung der gesammelten Wiener Sargnagel-Posts aus dem Netz, die sarkastisch oder lustvoll ekelerregend Weibchenbilder zerkloppen, wie sie beispielsweise lüsterne Kerle im Call-Center ablassen oder forsche Lifestyle-Feministinnen plakatierten („Ist Abnehmen feministisch? Mein Körper ist wie ein köstlicher Wackelpudding!“).

Also jede Menge Normen, kreischend zu Stinkekäse gemacht, der dann kreischend breitgetreten wird. Macht mal Spaß, riecht aber in der Häufung. Natürlich, die Regie meint, das alles sei gellend parodistisch, furchtbar provokant, schrecklich aggressiv. Ist es aber bloß stellenweise. Und bleibt ansonsten – um im Jargon zu pupen – ein laues Fürzchen.

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Er hatte den geilen Blick, den geilen Hüftschwung, die zum Kampf geballte Faust, die Gitarre und seine revolutionär röhrende Stimme. Damit rockte er die Mädels, das Politbüro und die halbe DDR dazu: Dean Reed, der Cowboy aus Denver, Colorado.

Wie das: Ein US-Amerikaner in den 1970/80er Jahren als Polit-Star diesseits der Mauer hinterm eisernen Vorhang? Mit mehr Platten als Manfred Krug?

Der wilde Kerl aus Western-Land, sozialisiert durch Vietnam, durch Chile, Freund von Fidel, Allende, Che, war ein glühender Aktionist, der schon mal eine USA-Flagge vom „Schmutz des Imperialismus“ reinwusch. Er glaubte an Gerechtigkeit, Völkerfreundschaft, Weltfrieden. Und diese Trias bestimmte den Inhalt seiner Songs, Lieder und Balladen, deren agitatorischer Grundton glaubhaft wurde vor allem durchs mitreißende Temperament des Sängers, seinen virilen Charme, seine Aura.

Den vornehmen, eher dissidentisch gefärbten Intellektuellen war der einst in Hollywood gescheiterte Schönling eher ein politischer Einfaltspinsel („Friedensflöte“), der die Realitäten verklärte und sich als Opportunist vereinnahmen ließ. Für Privilegien, für freies Reisen zwischen Ost und West und zurück (immerhin verstand er sich da – zu Recht – auch als „Brückenbauer“). Für beträchtliche Einnahmen eben als „roter Elvis“, als heißer Superstar und gellende Trompete für „Frieden und Sozialismus“. Und obendrein als Schauspieler und Regisseur beim DEFA-Film.

Dieser umtriebige Sonnyboy – „der Kommunismus kann auch singen“ – sorgte im sozialistischen Agit-Prop-Showgeschäft wie überhaupt im sozialistischen Unterhaltungsbetrieb mit frischem Wind nebst einer Portion Poesie für die richtigen Botschaften und noch dazu für gute Laune im Land von Egon Krenz und Erich Honecker.

Doch der schillernde Kampfgenosse mit Western-Hut und Levis-Jeans (in der DDR zwei Mal verheiratet sowie Vater mehrerer Kinder), dieser scharfe Hecht („erst sex, dann politics“) hatte auch seine sensiblen, seine dunklen Seiten, in denen insgeheim die Zweifel keimten am reinen Rot Und weiter wuchsen mit dem Erscheinen Gorbatschows, mit Glasnost und Perestroika. Das ging so weit, dass er die DDR als faschistoid brandmarkte, natürlich nicht öffentlich. Eine Schaffens- und Glaubenskrise wucherte, trieb ihn schließlich 1986 – die Stasi wird wohl auch getrieben haben ‑ in den Selbstmord im Zeuthener See. Sein Anklage-Abschiedsbrief an die SED-Zentrale, an den Genossen Eberhard Fensch, blieb freilich unter Verschluss, kam erst nach 1990 ans Licht. „Freiheit für alle! – Ich werde euch fehlen!“, so sein Ruf aus dem Grab.

Diese Geschichte eines begabten Burschen aus der Provinz, der es aus dem Pferdesattel in den Stardust schafft, der einen enormen Emanzipationsprozess durchsteht und um die Welt kommt, dieses spektakuläre Künstlerleben zeichnet ‑ in groben Zügen, doch mit viel Feingefühl – die wieder sensationell innovative Neuköllner Oper zu Berlin nach. In ihrer frech unterhaltsamen, dabei klugen, sehr nachdenklich stimmenden Reed-Revue mit dem trefflichen Titel „Iron Curtain Man“.

Texter Lars Werner und Regisseur Fabian Gerhardt haben das Drama ihres gebrochenen Helden, den Ideale befeuern und Realitäten kaputt machen, mit Charme, Witz und, ja schon, mit heiligem Ernst auf die neuralgischen Punkte gebracht – mit nicht nur ohrwurmhaften, sondern auch dramatischen Musiken von Claas Krause und Christopher Verworner, wobei Krause auch die formidable Band führt.

Und hier die Blumen für das zwischen Satire, Kabarett, nüchterner Ansage und Show gekonnt hin und her wechselnde, chorisch oder solistisch singende, spielende, tanzende Ensemble: Frédèric Brossier, Raphael Dwinger, Sophia Euskirchen, Franziska Junge, Claudia Renner, Meik von Severen.