Prominenten Verblichenen statten wir gerne einen Besuch ab. Geben doch ihre Grabstätten trefflichen Anlass, über den Lauf der Zeiten und die Vergänglichkeit des Ruhmes zu reflektieren und dem oder der einen oder anderen wahlweise eine Ackerdistel oder eine Rose in das leider verschlossene Grab wenigstens symbolisch legen zu können. Geradezu prädestiniert für solche Spaziergänge scheint in Berlin der Dorotheenstädtische Friedhof an der Chausseestraße zu sein. Über dessen Geschichte haben der Landschaftsarchitekt Martin Ernerth und der Kunsthistoriker Jörg Kuhn ein hervorragend ausgestattetes Buch herausgegeben.
Die Anlage ist inzwischen über 250 Jahre alt und ein „Muss“ für jeden, der Berliner Kulturgeschichte im Komprimat erleben möchte. Unsere Museen geben das leider nicht her. Da der „Dorotheenstädtische“ ein „ganz normaler Gemeindefriedhof“ ist, wie der Theologe Giselher Hickel etwas tollkühn behauptet, ist es zum Verständnis dieses Friedhofs hilfreich, dass sich Jörg Kuhn nicht nur zur Geschichte der Anlage selbst, sondern auch zur Geschichte der Dorotheenstädtischen und der Friedrichwerderschen Gemeinde äußert. Giselher Hickel erzählt auf angenehm zu lesende Weise, wie nach 1945 aus einem Gemeindekirchhof, auf dem auch Prominente lagen, ein Prominentenfriedhof wurde, auf dem auch Gemeindemitglieder liegen. Hier sei nur so viel verraten: Schuld ist Bertolt Brecht. Mit dem fing es an. In der Folge zeigte sich der Gemeindekirchenrat immer offen gegenüber den Empfehlungen der Akademie der Künste. Das scheint auch heute noch so zu sein. Damit ist die Frage nach dem Sinn von Kunstakademien geklärt.
Mir hat der Band geistigen Gewinn und intellektuelles Vergnügen gewährt. Wenn Sie nach der Lektüre die sich „etwas eng beieinander gelegt“ habende, „ungemein gediegene, charaktervolle Gesellschaft“ – so Arthur Eloesser in einem köstlichen Feuilleton aus dem Jahre 1921 – besucht haben und die Schwermut Sie in die Gruft zu treiben droht, dann schlüpfen Sie doch einfach durch die kleine Pforte rechterhand auf dem Wege zum Ausgang Chausseestraße. Sie kommen dann auf den Französischen Friedhof. Da ist es entschieden lustiger, da liegen die Spaßmacher und Komödianten.
Martin Ernerth / Jörg Kuhn (Hg.): Der Dorotheenstädtische Friedhof. Prominente Geschichte in der Mitte Berlins. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2019, 184 Seiten, 20,00 Euro.
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Überhaupt nicht spaßig ist die überbordende Zunahme von Irrationalismen, die unter dem Stichwort „Verschwörungstheorien“ einzuordnen sind. Wer meint, dahinter steckten nur die harmlosen Irren mit den Alu-Hüten, irrt gewaltig. Die „jüdische Weltverschwörung“ findet immer noch – oder schon wieder – raunende Anhänger in wachsender Zahl. Und die wissen genau, „wer dahinter steckt“! Die Bandbreite der „Impfgegner“ wiederum reicht von schlichten Angsthasen über naturwissenschaftlich Halbgebildete bis zu hartnäckigen Anhängern der These, der „Impfzwang“ wäre nur ein billiger Trick Außerirdischer, die über ihre Helfershelfer in den Pharmakonzernen Kontrolle über die Menschheit zu erlangen suchten. Und dann gibt es noch die große Zahl jener, die meinen, hinter allen Übeln steckten Bill Gates oder Putin, die Chinesen, die CIA, der Mossad oder der Islam. Die Reihe ließe sich beliebig verlängern. Richtig gefährlich wird es, wenn diese Auffassungen anfangen, Massen zu bewegen und politisches Potenzial zu entfalten.
Aber Vorsicht vor zu großer Arroganz! Natürlich gab und gibt es Verschwörungen in Politik und Wirtschaft. Natürlich gab und gibt es in den Wissenschaften Kartellbildungen, die mit allen Mitteln versuchen, die von ihnen vertretenen „Lehrmeinungen“ vor den Gefahren neuer Fragen, ganz zu schweigen von denen anderer Antworten, zu bewahren. Aber in direkter Proportionalität zur Menge des von der Menschheit aufgehäuften Wissens scheint das Unvermögen zu wachsen, damit umzugehen. Die Sehnsucht nach dem Einfachen, Überschaubaren wird immer größer. Der ästhetische Minimalismus findet seine Entsprechung in intellektueller Schlichtheit. Von hier ist es nicht weit zu einer Art „neuer Religiosität“ ohne Kirchen, auch ohne Gott. Seit Beginn der Neuzeit tauchen solche Strömungen in Krisen- und Umbruchzeiten immer wieder auf.
„Religionen und Verschwörungstheorien eint die Vereinfachung von Ursache und Wirkung, die Entrückung der eigentlich Handelnden auf eine höhere Ebene sowie Regeln und Anleitungen dazu, was zu tun ist, um Sicherheit zu erlangen.“ So formuliert es der Physiker Holm Georg Hümmler in seinem Buch über „Verschwörungsmythen“ – als Naturwissenschaftler versucht er absichtsvoll den Begriff Theorie zu vermeiden. Dieser impliziert immer den experimentell nachvollziehbaren und wiederholbaren Beweis. Hümmler setzt hinzu, dass der Glaube an „Verschwörungstheorien“ im Unterschied zur Religion fast nie positive Projektionsflächen biete und letztlich negativistischer sei „als die Mehrzahl der Religionen“.
Der Autor untersucht Substanz und Funktionsweise von Verschwörungsmythen unter anderem am Beispiel der Terroranschläge vom 11. September 2001, der Leugnung der Mondlandungen und der HAARP-Erdbebenmaschine. Natürlich wendet er sich auch den „Chemtrails“ zu sowie den nicht nur unter Anhängern der Neuen Rechten Mode gewordenen Visionen von Hitlers Flugscheibe und dem „Neuschwabenland-Mythos“. Der Zweifel an der Kugelgestalt der Erde – oder wahlweise der Glaube an unseren Planeten als Hohlkörper mit darin befindlicher „Gegenerde“ – ist letztlich nur das Sahnehäubchen auf die Anhäufung von Absurditäten, mit denen sich der Autor auseinandersetzt.
Hümmler gehört zu den Unermüdlichen, die immer noch auf die Kraft von Aufklärung und Rationalität setzen, er ist Mitglied der Gesellschaft zur Wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V. (GWUP). Deshalb gibt er am Ende seines Buches Ratschläge zum Umgang mit „Verschwörungstheorien“. Wir wollen gerne an die Wirksamkeit seiner Empfehlungen glauben, haben aber Zweifel, solange sich Politikerinnen und Politiker, Lehrerinnen und Lehrer und nicht zuletzt einige unserer Kolleginnen und Kollegen in den (von Bill Gates oder dem Kreml gesteuerten?) Medien ernsthaft auf die Prämissen dieser Leute einlassen. Hümmler macht das sehr vorsichtig am Beispiel der Chemtrails-Gläubigen deutlich. Die Vorsicht ist angebracht. In diesem Land kann man mit Mitteln des Rechts gegen (fast) alles vorgehen. Das ist nun keine Verschwörungstheorie, sondern täglich erlebbare Realität.
Holm Gero Hümmler: Verschwörungsmythen. Wie wir mit verdrehten Fakten für dumm verkauft werden. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2019, 223 Seiten, 19,80 Euro.
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Täglich erlebbar sind derzeit geradezu irrationale Ängste angesichts der COVID-19-Pandemie. Sie sind der Boden, auf dem nicht zuletzt Verschwörungstheorien gedeihen. Steven Taylor – klinischer Psychologe an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada – hat die Pandemien des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer psychologischen Begleitumstände untersucht. Sein Fazit: Regelmäßig vernachlässigten die Gesundheitsbehörden „die Rolle psychologischer Faktoren bei pandemiebezogenen Infektionen“. Das war bei der Spanischen Grippe 1918-1920 so, das ist bei COVID-19 nicht anders. Dabei ist ein verantwortungsbewusster Umgang mit diesen Faktoren eine wesentliche Voraussetzung wirksamer Pandemiebekämpfung, die eben nicht nur auf faktisch (gesundheits-)polizeistaatliche Methoden setzt. Taylor hat sein Buch vor Ausbruch dieser Pandemie geschrieben. Es liest sich wie eine 1:1-Analyse der jetzigen Situation und ist auch Nicht-Gesundheitspolitikern zur Lektüre empfohlen.
In der aktuellen Ausgabe von Lettre INTERNATIONAL berichtet der Sozialanthropologe Alex de Waal („Pathogen und Politik“) vom – von Epidemiologen so nicht erwarteten – Rückgang der Ebola-Seuche in Westafrika 2014. De facto ist das eine Bestätigung der Empfehlungen Taylors.
Steven Taylor: Die Pandemie als psychologische Herausforderung. Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement, aus dem Englischen von Jürgen Schröder. Psychosozial-Verlag, Gießen 2020, 185 Seiten, 19,80 Euro.
Schlagwörter: Dorotheenstädtischer Friedhof, Holm Gero Hümmler, Jörg Kuhn, Martin Ernerth, Pandemie, Steven Taylor, Verschwörungstheorien, Wolfgang Brauer