Die Salzburger Festspiele trotzen in ihrem 100. Jahr allen Widrigkeiten und machen das Unmögliche möglich. Als die großen Sommer-Festspiele eins nach dem anderen den aktuellen Jahrgang absagten, blieb man in Salzburg still. Dann kamen Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler und Intendant Markus Hinterhäuser aus der Deckung, legten ein Konzept und ein verkürztes Programm für den August vor. Mit ausgeklügelte Regeln für die Orchester und einer Zuschauerchoreografie, zu der gehört, dass jeder Zuschauer den rechten und linken Platz neben sich frei hat. Es sind Jahrhundert-Festspiele. Aber nicht nur wegen des Sicherheitsaufwandes, sondern auch kalendarisch. 1920 gingen die ersten Festspiele über die Bühne. Eine wunderbare Ausstellung im Salzburg Museum lässt sie – als „Großes Welt Theater“ benannt – Revue passieren. Der Katalog ist im Residenz Verlag erschienen und lohnt sich!
Am 1. August, dem Eröffnungstag, ersetzte Alexander Kluge in der Felsenreitschule in einer Rede über das Jahrhundert, in seiner typisch anekdotisch collagierenden Art alle anderen sonst üblichen Reden. Und immer, wenn er vom klaren Gedankenpfad abkam, bewies er, dass er nicht nur Kluge heißt …
Die erste Vorstellung des unvermeidlichen „Jedermann“ gab es wetterbedingt nicht vorm Dom, sondern im Großen Festspielhaus. Das berühmte Belehrungsstück mit all den altmodisch volks(theater)tümlich in Stein gehauenen Sätzen von Festspielmitbegründer Hugo von Hofmannsthal erwies sich als Stück zur Stunde, weil es lieb gewordene Selbstverständlichkeiten radikal hinterfragt. Der Tod ruft den reichen Mann mitten aus dem Leben und fordert von ihm die Bilanz seiner Taten ein. Das Besondere daran ist, das sich seit jeher die Besetzungen wie ein „Who-is-Who“ der populärsten Schauspielerinnen und Schauspieler deutscher Zunge lesen. Allein die Aufmerksamkeit für die Buhlschaft ist nur erklärbar, wenn man die Namen der Vorgängerinnen Revue passieren lässt: unter anderem Nina Hoss und Veronica Ferres, Sophie Rois und Sonny Melles, Christiane Hörbiger und Senta Berger und so weiter. Keine war sich zu schade für diese Nebenrolle mit ihren nur 36 Sätzen. Caroline Peters passt da genau rein. Modern, mit ihrer unwiderstehlichen Präsenz, die allemal von Innen kommt und bei der der Witz immer dazugehört. Wenn sie auf einer Riesentorte mit einer herrlich schräg hingehauchten Nummer an Marilyn Monroes berühmtes „Happy Birthday“ für ihren Präsidenten Kennedy erinnert und Jedermann ansingt, dann muss man einfach lachen. Das ist ein tollerAuftritt.
Es ist ein schöner Theatermoment, dass sich in Michael Sturminger drei Jahre alter Inszenierung die Peters in ihrem ersten und Tobias Moretti mit seinem letzten Jedermann-Auftritt noch auf der Bühne begegnen. Sie passen einfach fabelhaft zusammen.
Auch wenn es diesmal nur zwei Opern gibt, ist mit Auswahl und Umsetzung ein Coup gelungen! Dabei gingen sowohl „Elektra“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal als auch Mozarts „Cosi fan tutte“, als „richtige“, im Graben groß und auf der Bühne exquisit besetzte Produktionen über die Bühne. Das ist nicht nur der Hartnäckigkeit der Festspielleitung, sondern auch den Wiener Philharmonikern zu verdanken. Die Musiker gehören nicht nur zu einem Weltspitzenorchester, sondern sind auch so mutig, sich im Corona-Ausnahmezustand auf eigene Vorsicht, ausgeklügelte Distanzregeln und dauerndes Testen zu verlassen. Im Graben dann aber, im wörtlichen und übertragenen Sinne, im Dienste der Kunst zusammenrücken.
Und so machte Franz Welser-Möst die „Elektra“ in der Felsenreitschule zu einem Fest des packenden, mitreißenden Klangsogs. Er konnte den großen Straussklang bedenkenlos entfesseln, weil er ein fantastisches Frauen-Trio an der Spitze des Ensembles hatte: Mit Ausriné Stundyté als bestechend eloquente Elektra. Mit Asmik Grigorian als eine umwerfende Chrysothemis und mit Tanja Ariane Baumgartner, einer Klytämnestra, die nicht nur fulminant singt, sondern auch den hinzugefügten gesprochenen Monolog bewältigt, in dem sich zum Mord an Agamemnon bekennt. Regisseur Krzysztof Warlikowski bezieht so die Vorgeschichte mit ein. Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak hat aus den Gemächern des Palastes einen verspiegelten, nüchtern modernen Raum gemacht, der die Familienkonstellation und ihre Vorgeschichte präsent hält. Am Ende schiebt sich dieser Palast über das lange Wasserbecken, das an den Mord an Agamemnon erinnert. Zu den Todesschreien der Klytämnestra wird Blut auf die Rückwand projiziert, das unzählige Fliegen anzieht, die es wegfressen. Deren Bewegungschoreografie im Video entfaltet eine ganz eigenen Suggestionskraft zum eskalierenden Freudenjubel Elektras.
Ist der Strauß-Einakter schon immer von coronacompatibler Kürze, so haben Regisseur Christof Loy und Dirigentin Joana Mallwitz die Mozartoper „Cosi fan tutte“ auf zweieinhalb Stunden eingekürzt. Ohne dabei Phantomschmerzen zu erzeugen. Mallwitz ist die erste Frau, die bei den Festspielen eine Premiere dirigierte. Am Ende applaudieren ihr auch die Musiker. Johannes Leiacker (Bühne) hat den Raum aufs Wesentliche reduziert und ermöglicht so die volle Konzentration auf das Stück. Dem rückt der Regisseur mit der feinen psychologisierenden Feder zu Leibe. Hier braucht man die Verkleidungsshow im Stück nicht, die ja doch immer nur zwischen albern und völlig unglaubwürdig changiert.
Wenn die jungen Männer, die die Treue ihrer Bräute testen wollen, verkleidet wiederkommen, dann genügt eine Handbewegung Alfonsos und die weiße Wand mit den zwei Flügeltüren teilt sich für einen Moment der Verzauberung. Mit einem Blick auf einen riesigen, ergrünten Baum. Die Personenführung ist so präzise, dass man zu dem, was die Protagonisten singen, auch noch sieht, was sie heimlich denken, was sie verunsichert, was sie sich noch verbieten, aber wohl gerne selbst gestatten würden. Das Musterbeispiel dafür ist Fiordiligis Felsenarie. Elsa Dreisig singt sie nicht nur grandios, sie spielt dabei zugleich alle Facetten des Selbstzweifels durch, so dass es sie am Ende im Wortsinn umhaut. Auch Marianne Crebassa (Dorabella), Andrè Schuen (Guglielmo) und Bogdan Volkov (Ferrando) haben alle ihre Momente der Verunsicherung. Das sieht man selten so fein ausformuliert. Wunderbar komödiantisch ist Johannes Martin Kränzle, der als Don Alfonso, der nicht nur die mädchenhafte Despina Lea Desandre (ver-)führt. Wenn eine Inszenierung, die in der Reduktion des Drumherums so klar auf die Musik und die Geschichte setzt, dieses Weiterdenken ermöglicht, ist das eine Klasse für sich.
Im Schauspiel schließlich lieferte Nobelpreisträge Peter Handke mit „Zdeněk Adamec“ einen Text, den er selbst zwar „Eine Szene“ nennt, der aber in seiner Theaterform eher enttäuschte. Was wir im Landestheater aus sieben Mündern hören, sind Fundstücke aus der Wirklichkeit, Abschweifungen, Assoziationen, Nachdenken über das Schreiben selbst und die Reichweite der Wörter. Dazwischen das minutiöse Protokoll der Selbstverbrennung des jungen Zdeněk Adamec auf dem Wenzelsplatz am 6. März 2003. Der suchte die Anspielung auf Jan Palach, der mit seiner Selbstverbrennung am 10. Januar 1969 gegen die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings protestieren wollte. Der Held in Handkes Text hat eher den Zustand der Welt mit ihren kapitalistischen Auswüchsen im Sinn. Wirklich nahe kommt er den Motiven für diesen Akt der Gewalt gegen sich selbst aber nicht. Handkes Text ist eine zersplitterte Vorlage für das Ringen um seine Theaterform.
In der Regie von Friederike Heller scheitern die sieben Protagonisten mehr oder weniger bei diesem Ringen um das Theater. Heller verharrt in allzu ehrfürchtigem Respekt vor Handkes Worten. Man könnte sagen – vor jedem einzelnen. Und so kreist die etwas weltenferne Wortpoesie eines großen Eigensinnigen wie ein Schneegestöber um eine menschliche Flamme. Das Lodern bleibt – letztlich unaufgeklärt. Die Worte aber zerschmelzen und vergehen im Nichts.
Dass der Auftakt der Festspiele alles in allem so überzeugend gelang, ist ein verdienter Lohn für den Mut der Festspielmacher! Sie erneuern damit das Zeichen der Ermutigung, als das diese Festspiele 1920 auf die Welt kamen!
Schlagwörter: "Cosi fan tutte", Christof Loy, Elektra, Franz Welser-Möst, Friederike Heller, Joachim Lange, Peter Handke, Salzburger Festspiele