Es ist nicht eben üblich in dieser Szene, dass ein Choreograph und Tanzwissenschaftler (Theaterhochschule „Hans Otto“ Leipzig) von der Uni Bremen promoviert wird zum Thema „Tanz und Politik“. Seither wirkte Ralf Stabel, Jahrgang 1965, als Chef, Manager und Pädagoge an der Staatlichen Ballettschule Berlin. Er führte dieses auf Höchstleistungen programmierte Elite-Institut durch kluge Erweiterung seiner organisatorischen und künstlerischen Strukturen zu großer internationaler Anerkennung. (Studienbewerber kommen aus aller Welt.) Die Schule gilt es als begehrter Partner nicht nur der hauptstädtischen Profi-Ensembles, was nicht zuletzt auch auf Stabels Gründung des ersten deutschen Landesjugendballetts zurückzuführen ist. Sonderlich die internationale Ausrichtung und opulente Gastspieltätigkeit begeisterte die Berliner Politik. Für Schulsenatorin Sandra Scheeres war die stolze Schule durch ihre enorme Ausstrahlung ein Aushängeschild der Stadt, „eine Kulturbotschafterin Berlins“. – Jetzt aber und quasi über Nacht ist alles anders. Aus Ruhm und Verehrung wurde absurderweise Verdammnis. Doch darüber später.
Wichtig zu wissen ist, dass Stabel nicht nur als renommierter Mann der Praxis gilt, sondern auch als ein anerkannter Wissenschaftler und Sachbuchautor. Beispielsweise soll seine Gret-Palucca-Biografie, so führende Tanzkritiker, die beste Tänzer-Biografie sein, die je in deutscher Sprache erschienen ist (Besprechung im Blättchen 1/2020). Und die Wiederentdeckung des einstigen Jahrhundert-Tänzers und Nazi-Verfolgten Alexander von Swaine („Tanzende Feuerseele“; Henschel Verlag 2015; eine filmische Biografie wird gegenwärtig erarbeitet) ist ihm ebenso zu verdanken wie die Übertragung der „Briefe über die Tanzkunst“ des Ballett-Reformers und Begründer unseres heutigen Bühnentanzes Jean Georges Noverre in ein verständliches Gegenwarts-Deutsch (Henschel, 2010).
Weniger bekannt hingegen sind seine Publikationen zum Verhältnis von Tanz und Politik. Die Geschichte der berühmten Dresdner Palucca-Schule etwa hat er sonderlich unter dieser Perspektive aufgerollt (Florian Noetzel Verlag, 2001); mithin auch die Verstrickungen der Staatssicherheit mit dem Tanzwesen der DDR – vom tanzenden Denunzianten bis hin zur intriganten Direktion (Parallelen zur Gründungsgeschichte des Berliner Ensembles sind unübersehbar). Das flächendeckend installierte, geheime Info-Netz des Ministeriums für Staatssicherheit im diesbezüglich ansonsten bis jetzt öffentlich eher unterbelichteten Ballett-Bereich erhellte Ralf Stabel erstmals auf komplexe Weise in seinem spannenden, zuweilen amüsanten, teils gar grotesken, immer aber aufschlussreichen Buch „IM ‚Tänzer‘. Der Tanz und die Staatssicherheit“. Es erschien bereits 2008 im Schott Verlag Mainz, wurde damals kontrovers diskutiert. Die Ostler vermissten Rachegeschrei, Westler Outing-Sensationen. Es ist auch heute geradezu erschreckend aufschlussreich.
Rund 17 Millionen Menschen lebten in der größten DDR der Welt, die alles besser und schöner als alle anderen machen wollte – und vor allem alles ganz anders, ganz neu, nämlich – fortschrittlich. Zugleich wollte sie überall mitreden, dazugehören, wollte Weltniveau. Auch in Kunstsachen erstrebte man die Spitze, wofür die DDR, als kleines Ländchen, sehr viel Geld ausgab. Das alles zusammen beförderte immense Widersprüche: Einerseits Weltniveau und Innovationen, anderseits Abschottung und Pochen auf Dogmen.
Also Bevormundung. Die betraf selbstredend auch die hohe Kunst des Tanzens. Mithin die immerhin rund tausend hauptberuflichen Tänzerinnen und Tänzer, die an drei zunehmend großzügiger ausgestatteten Schulen in Dresden, Berlin und Leipzig ausgebildet wurden. Man tanzte vornehmlich klassisch (russisches System), teils auch folkloristisch, und sah im sozialistisch-realistischen Handlungsballett die Krönung der Tanzschöpfung. Wer da (westwärts) in andere Richtungen schaute, wurde schnell – gern als so genannter Formalist – verdammt.
Die Eiertänze einzelner Choreographen zwischen Klassik und Moderne sind Legende. Mal ging es halbwegs gut, meist folgten Verbote. Die gestrengen Polit- und Kunstfunktionäre der SED als führender Partei wachten mit Argusaugen. Ihr wohl wichtigstes Hilfsmittel, ihr „Schild und Schwert“, war das Ministerium für Staatssicherheit mit seinen massenhaft für lau (oder bestenfalls Prämienzahlungen) rekrutierten oder erpressten Inoffiziellen Mitarbeitern, volkstümlich: Spitzel.
Im Kern ging es der Stasi um zweierlei: Verhinderung des Straftatbestands „Republikflucht“ sowie um die „vollständige mehrfache gegenseitige Überwachung der Tänzerinnen und Tänzer durch sich selbst“, wie Stabel schreibt. Also um Gesinnungsschnüffelei. Ein Grundsatz vor allem galt: „Wichtig für uns ist, was hinter der Bühne passiert.“ Und in den Köpfen, sollte man hinzufügen.
Mit der dem Horch-und-Guck eigenen immensen Eifrigkeit und Akribie wurde im Lauf der Jahre ein immer dichter werdendes Netz der Totalüberwachung gespannt. Und das mittels eines Heeres von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), Hauptamtlich Inoffiziellen Mitarbeitern (HIM), Geheimen Hauptinformatoren (GH), Geheimen Informatoren (GHI), Inoffiziellen Mitarbeitern der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung mit im Verdacht der Feindseligkeit stehender Personen (GHM), Inoffiziellen Mitarbeitern im besonderen Einsatz (IME), Inoffiziellen Mitarbeitern der inneren Abwehr mit Feindverbindung zum Operationsgebiet (IMF), Inoffiziellen Mitarbeitern zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens (IMK) und anderen mehr.
So aberwitzig bürokratisch der Betrieb sich gliedert, so detailreich und anschaulich schildert ihn Ralf Stabel, was auch – sagen wir – saftig Spektakuläres einschließt. Etwa die „Aufklärung“ des künstlerischen Nachwuchses an der Berliner Staatlichen Ballettschule oder die raffinierte Überwachung und „Abschöpfung“ der schlitzohrig zwischen Ost und West tänzelnden Gret Palucca in Dresden („Die P. ist sehr von sich eingenommen.“). Oder die „Absicherung“ der Staatsoper Berlin mit ihren kostbaren Tanz-Stars, der sogar in Feindesland West angeheuerte Spitzel dienten. Dabei sind die zehn Kapitel von Stabels Buch auch für Laien gut verständlich und mit souverän leichter Feder geschrieben. Trotz vieler schmerzlicher, ja tragischer Geschichten der Opfer und Täter (oft in einer Person) bleibt ein fein ironischer Grundton der Erzählung, frei von Eifer oder gar Häme. Hier spricht einer, der sich auskennt im komplizierten Tanzhaus DDR.
Der Autor lieferte mit seinen akribischen Recherchen eine in die dominierenden politischen und ideologischen Debatten gebettete kompakte Draufsicht auf die Entwicklung des Tanzwesens in der DDR von den 1950er Jahren bis zum Ende der 1980er Jahre, das – alles in allem – trotz schwerer innerer Widersprüche und rabiater theoretischer wie praktischer Auseinandersetzungen teils großartige Leistungen hervorbrachte, die auch international anerkannt wurden („DDR-Exportschlager Tanz“).
Ähnlich anerkannt sind auch die heutigen Sprösslinge der Staatlichen Berliner Ballettschule und mithin Ralf Stabel als ihr Chef. Doch was sich seit Anfang 2020 abspielt hat, ist eine wahnwitzige Geschichte staatlicher Machenschaften. Ihren Anfang nahm sie im Dezember 2019. Da hatte Stabel ein anonymes Schreiben bezüglich des Buchs „IM Tänzer“ erhalten – mit der Bemerkung, er begreife ja, wie „repressive Systeme“ funktionierten. War das eine Vorwarnung auf Kommendes?
Überstürzt und kopflos wurde er nämlich Anfang 2020 von der zuständigen, längst auch anderweitig ihrer Amtsführung wegen schwer kritisierten Bildungssenatorin Sandra Scheeres von seinem Posten als bis dato allseits gefeierter Schulleiter entfernt (siehe ausführlich im Blättchen 10/2020). Und das allein aufgrund von Denunziationen und von bis jetzt nicht aufgeklärten Unterstellungen sowie deren Verbreitung durch den Politik- und Medienbetrieb, ohne den Beschuldigten je dazu befragt zu haben. (Immerhin, die verstörte Schülerschaft schrieb einen „verzweifelten“ Protestbrief an Berlins Regierenden Bürgermeister).
Dass ein Autor auf diese Art und Weise und quasi mit von ihm recherchierten DDR-Methoden zu Fall gebracht werden soll, ist geradezu unglaublich. Man könnte meinen, die aus welchen Gründen auch immer eingefädelte Groß-Intrige gegen einen kunstpädagogischen Groß-Erfolg, den die Staatliche Ballettschule Berlin zumindest bisher darstellte, stamme von Leuten, sie sich mit dem alten System gut auskennen. Oder anders gesagt: Das denunziatorische Prinzip ist ein immerwährendes.
Glücklicherweise können unter rechtsstaatlichen Bedingungen solcherart Sachverhalte öffentlich gemacht und den Gerichten übergeben werden. Die Prozesse laufen und werden hoffentlich alsbald Licht bringen in den düsteren Intrigantenstadel. – Und: Ralf Stabel könnte, wie auch immer dieser bizarre Skandal endet, über seinen Fall und über die Verstrickungen von Tanz und Politik im Jahr 2020 ein neues Buch schreiben.
Schlagwörter: Ralf Stabel, Reinhard Wengierek, Sandra Scheeres, Staatlichen Ballettschule Berlin