Gestern noch mit Lorbeer überschüttet, heute als Schmuddelkind im Orkus. – Die weltweit anerkannte, 1951 in Ostberlin gegründete Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik, quasi über Nacht im Absturz.
Der Auslöser: Ein Packen Papier; 46 Seiten Klage: Über „Intransparenz, Führungslosigkeit und einseitige Leistungsorientierung“. Dabei sonnen sich seit Jahren die Lehranstalt wie ihre Senatsverwaltung im internationalen Ruhm. Wie kann es da sein, dass in all den vielen Jahren keine derartig fundamentalen Klagen laut wurden?
Verfasst wurde der spektakuläre Aufschrei auf Grundlage von Hörensagen („…uns ist bekannt, dass…“). Von einer Handvoll anonym bleiben wollender Autorinnen (Autorinnen: soviel sickerte durch), die ihr Dossier mit denunziatorischem Geschmäckle am 8. Januar dieses Jahres der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres übermittelten mit der Forderung, die Fülle der Missstände zügig abzustellen – aber bitte ohne Einbeziehung der Schulleitung.
So fand denn – folgsame Senatorin – das in solchen Fällen Nächstliegende nicht statt: Nämlich die Kontaktaufnahme der SPD-Behörde zur gesamten Leitung der Schule sofort nach Eingang der schwerwiegenden Vorwürfe. Nächstliegend auch die Frage, wie es sein konnte, dass die angeblichen Missstände seit vielen Jahren geduldet und klaglos hingenommen wurden. Zudem wandten sich die Beschwerdeführerinnen mit ihrem Katalog behaupteter Missstände alsbald an die politische Öffentlichkeit (die bildungspolitischen Sprecherinnen der SPD und der beiden anderen Berliner Koalitionsparteien Linke und Grüne) sowie an die Medien. Die für Nachfragen zuständige Senats-Pressestelle hielt sich seltsam bedeckt; sensationsheischende Negativschlagzeilen waren die wohl erwünschte Folge.
Und so kam es also ohne Befragung der Schulleitung und der Studentenschaft zur ungeprüften Veröffentlichung der besagten anonym verfassten Sammlung – noch immer gilt die Unschuldsvermutung – vermeintlicher Missstände: beispielsweise Mobbing, Bodyshaming, Essstörungen, Depressionen, Gewalt, Sexismus oder unzumutbar hartem Drill an 13-Stunden-Tagen.
Wobei der Kern der Vorwürfe sich gegen allerorts bewährte Mittel und Methoden richtet, weltweit Jungkünstler auf ihre Bühnentauglichkeit vorzubereiten. Die sollen nun plötzlich in Berlin dem Jugendschutzgesetz widersprechen.
Es geht also gegen Berufsspezifisches: Etwa die jenseits des Schulalltags äußerst aufwändig vorbereiteten Auftritte („harter Drill“) im In- und Ausland – von den Schülern und Schülerinnen brennend ersehnt; beispielsweise Tourneen und Auslands-Gastspiele, auch im Rahmen von Deutschlands einzigem Landesjugendballett, 2017 gegründet von der Senatorin als „vierte Säule“ neben den Fachrichtungen Bühnentanz, Artistik, Allgemeinbildung (siehe Das Blättchen 10/2018 „Querbeet“). Dazu Sandra Scheeres in ihrer Pressemitteilung vom März vor drei Jahren, die unterstreicht, dass die Novität politisch gewollt ist. – Scheeres: Das neue Jugendballett, soll „durch mehr und differenziertere Auftrittsformate die Bühnenpraxis während der Ausbildung erhöhen“. Bühnenerfahrung sei der entscheidende Schlüssel für einen erfolgreichen Berufseinstieg. Unter Leitung der Professoren Stabel und Seyffert wünsche man, „Können auf höchstem Niveau“ bundesweit und international zu präsentieren, was repräsentativ sei für die Kreativmetropole Berlin. Das Repertoire soll „die gesamte Breite des aktuellen Bühnentanzrepertoires, abendfüllende klassische und zeitgenössische Handlungsballette sowie zeitgemäße choreografische Kreationen umfassen“. – Wunderbar, aber schwere Arbeit; „Spitze“ kostet Schweiß und Tränen. Dafür lockt Lorbeer.
Die nach dem Ausbleiben einer sofortigen Anhörung der Denunzierten nächste unerhörte Amtshandlung der Senatorin Scheeres (SPD): Auf den besagten Medienrummel folgte Ende Januar die Beurlaubung der Professoren Ralf Stabel (55), erfahrener Pädagoge, exzellenter Tanzwissenschaftler, erfolgreicher Schulchef seit 13 Jahren, und Gregor Seyffert (53), seit 17 Jahren Künstlerischer Leiter des Instituts, ein gefeierter, vielfach mit Preisen ausgezeichneter Tänzer (Komische Oper Berlin) und Choreograph.
Seit dem Rausschmiss kümmern sich zwei interimistisch eingesetzte leitende Beamte von Oberstufenzentren (für Gastgewerbe, für Informations- und Medizintechnik) um die gerade in Corona-Zeiten so besonders schwierigen Führungsaufgaben in einem ihnen noch dazu völlig fremden Betrieb. Den beiden Geschassten blieb bislang nichts weiter, als sich juristisch zu wehren.
Mit der so eilends angeordneten Suspendierung von Stabel und Seyffert sowie der einer öffentlichen Vorverurteilung gleichkommenden Ausschreibung zur Neubesetzung von Stabels Schulleiterstelle initiierte die Bildungsverwaltung Viererlei:
Eine Clearing-Stelle (mit Blick auf zwei Jahrzehnte zurück), dazu eine so genannte Expertenkommission (besetzt mit Leuten jenseits von künstlerischen Lehreinrichtungen), eine Wirtschaftsprüfung – und sie aktivierte ihr Beschwerdemanagement.
Soeben erschien ein Zwischenbericht besagter Kommission (Experten für Bühnentanz und Bühnentanz-Ausbildung sind nicht dabei). Befragt wurden circa fünf Prozent der Studierenden, Eltern, Schulbeschäftigten (45 Personen in 25 Gesprächen). Die im Bericht unbelegten Aussagen wurden anonym zusammengefasst. Eine Methodik der Interviews ist nicht erkennbar, erst recht keine Repräsentanz der Aussagen. Der hoch gestochen als Expertise geführte Bericht übernimmt erstaunlicherweise im wesentlichen die anonymen, ebenso nicht belegten Pauschalvorwürfe des am 8. Januar der Politik und den Medien zugespielten 46-Seiten-„Dossiers“ mit dem berüchtigten „…uns ist bekannt, dass…“. – Eine Wiederkehr des „Denunzianten-Papiers“ in der „Expertise“? Die beiden seit dem 17. Februar freigestellten Mitglieder der schulischen Gesamtleitung, die Professoren Stabel und Seyffert, wurden nicht angehört. Wird’s etwa noch im Mai?
Bezeichnend ist, dass die von einem Großteil der Schülerschaft, aber auch von vielen Eltern und Freunden der Schule mit Enthusiasmus und Herzblut abgegebenen Gegendarstellungen zu dieser mehrheitlich als unanständig empfundenen Kampagne bislang nirgends Berücksichtigung fanden. Nur in einer 140-Seiten-Akte liest man ausführlich und detailliert von der anderen Sicht auf die erhobenen Vorwürfe oder angeblichen Missstände („es gibt hier keine ‚Kultur der Angst‘“); von positiven Erfahrungen sowohl mit der künstlerischen Ausbildung als auch dem schulischen Betrieb. Immerhin ist diese Schule eben nicht nur künstlerisch Spitze, sondern auch im Bereich Allgemeinbildung: Sie war mehrmals „bestes berufliches Gymnasium“ der Stadt und glänzt beim Mittleren Schulabschluss mit Ergebnissen, die teils weit über dem Berliner Durchschnitt liegen. Alles schon vergessen?
An dieser Stelle eine Bemerkung über das spezifische Konstrukt dieser Elite-Schule: Der schulische und künstlerische Ausbildungsprozess ist strukturell nicht getrennt wie bei vergleichbaren Hochleistungsinstituten. Beim Berliner Musik-Gymnasium beispielsweise liegen die künstlerischen Fächer nur bedingt in schulischer Verantwortung, sondern werden betreut von der Universität der Künste und der Hanns-Eisler-Hochschule. Beim Leistungssport verantwortet das Training der entsprechende Verband, das Allgemeinbildend-Schulische besorgt autonom eben die Schule. Das für Spitzenleistungen harte, teils extrem harte Training, hier an Instrumenten oder Geräten, obliegt also ganz überwiegend „außerschulischen“ Fachkräften. Im Gegensatz zur Ballettschule. Die jetzt im „Dossier“ überraschenderweise verurteilte „einseitige Leistungsorientierung“ (auf Augenhöhe mit Russen/Amerikanern!) bedeutet nichts anderes als eine Ablehnung weltweit gültiger Standards – eine letztlich gänzlich andere Zielsetzung der Schule. Jenseits von „Spitze“ wäre sie nicht mehr satisfaktionsfähig, sondern ein kuscheliger Gemütlichkeitsbetrieb.
Selbst dem skeptischsten Beobachter drängt sich auf, dass es sich hier offensichtlich um gezielte Beschuldigungen handelt (oder gar um persönliche Rachefeldzüge?). Warum wohl wurden von Anfang an, also spätestens ab dem 9. Januar, zwei Verantwortliche der Schule ausgegrenzt? Und deren interne wie öffentliche Verteidigung verhindert?
Ja doch, in der Schule hatte sich im Sommer 2019 – seltsamerweise ohne Wissen der Schulleitung – eine Betriebsgruppe der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gebildet, die im Geheimen tagte und damals bereits schwere Vorwürfe an die extrem leistungsorientierte Pädagogik erhob (Fürsorge, Kindeswohl). Vieles spricht dafür, dass zu dieser kleinen, abgesonderten Gruppe später auch Verfasser des skandalauslösenden 46-Seiten-„Dossiers“ gehören. Diese Gewerkschaftseinheit maßt sich an, im Namen aller zu sprechen, ohne von jenen dazu autorisiert worden zu sein.
Wenn es einzelne Vorfälle im Trainings- und Schulalltag gab, die man als übergriffig oder Fehlverhalten bewerten müsste, ging Direktor Stabel diesen selbstredend nach. Klärte vor Ort auf, machte Meldung bei der Schulaufsicht. Konsequenzen? Fehlanzeige!
Also: Stört biedere Gemüter in blindwütiger Reaktion auf gewisse Tendenzen des Zeitgeists der Elite-Begriff? Der Spitzentanz? Die Spitze? Der international geprägte Schulbetrieb? Das als „Drill und Auslese“ denunzierte Hochleistungsprinzip – die Schule liefert Nachwuchs für Compagnien internationaler wie nationaler Opernhäuser (nebenbei bemerkt: als fleißige Steuerzahler)?
Deshalb spekuliere ich jetzt mal frech drauflos, um womöglich eine rationale Spur aufzudecken, die hinter dem unprofessionellen, verbissen parteiischen oder ideologischen Verhalten der Politik stecken könnte, die obendrein den beiden bis dato unbescholtenen Landesangestellten Stabel und Seyffert die Fürsorgepflicht verweigert. Und jede Menge Steuergeld verbraucht.
Meine Fragen: Entspricht der „Führungssturz“ womöglich einem komplexen strategischen Konzept: Etwa dem programmatischen Umbau der Staatlichen Ballettschule zu einer „Schule für künstlerischen Tanz und Bewegung“ (ohne „Drill“ und Auslese)?
Passt diese Schule dann womöglich ins Konzept von Sasha Waltz, der just ohne „Position“, ohne den nicht unbeliebten, honorigen Professoren-Titel da stehenden Ex-Staatsballett-Berlin-Chefin und Direktrice ihrer Privat-Compagnie? Die mit Spitzen der Berliner Landespolitik fein Vernetzte wäre dann als Chefin des womöglich avisierten Bewegungs-Instituts bestens versorgt.
Ein anderes Szenarium: Das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz (HZT), eher der freien Szene zugeneigt und 2006 aufwändig installiert in einem ehemaligen Straßenbahndepot im Norden Berlins, dieser großzügige, schöne Standort ist gegenwärtig gefährdet durch Mietwucher. Falls man die traditionsreiche Staatliche Ballettschule im Stadtbezirk Prenzlauer Berg gar gänzlich abwickeln möchte, wäre deren dann frei gewordene komfortable Immobilie für das HZT der optimale neue Standort. Bei genauerer Betrachtung allerdings bleibt es höchst fraglich, ob eine solch hübsche „Schule für künstlerischen Tanz und Bewegung“ wirklich gebraucht wird.
Weitere Informationen im Internet.
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