23. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2020

Nach Hiroshima

von Max Klein

Wenn etwas wert sei, „richtig und gründlich gekannt, verstanden und beherzigt zu werden, dann die Jahre um 1945“, dies war der Rat meines verehrten Lehrers Gerhard Sack (1912–2006). Am 16. Juli 1945 beginnt die Konferenz in Potsdam, während in der Wüste von Neu Mexiko die erste Atombombe, „Trinity“, gezündet wird, Truman will Stalin imponieren. Am 6. August 1945 sterben etwa 100.000 Menschen in Hiroshima durch den Abwurf der zweiten Bombe an einem sonnigen Morgen. Im Februar 1945 verpflichtet sich Stalin in Jalta, Japan wenige Monate nach der deutschen Kapitulation den Krieg zu erklären. Das geschieht am 8. August 1945, einen Tag bevor beim Abwurf der dritten Atombombe mehr als 50.000 Menschen in Nagasaki sterben. Am 14. August erteilt der japanische Kaiser den Erlass über die bedingungslose Kapitulation. Am 9. September kapituliert die große japanische China-Armee.

Um den Abwurf auf Hiroshima (siehe auch Das Blättchen 21/2011) gab und gibt es Diskussionen. Im Juni 1945 erklären führende Wissenschaftler, unter anderem James Franck und Leo Szilard, in einem „Report an den Kriegsminister“, Henry Stimson, den Einsatz gegen Japan für nicht ratsam („inadvisable“). Der Franck-Report argumentiert sachlich, nüchtern, versucht zu überreden. Hinweise auf menschliches Leid findet man eher nicht, es geht um die Reputation der USA, technische Fragen, leider wurden sie nicht gehört. Stimson erklärt zwei Jahre später, man hätte die Wahl gehabt zwischen hunderttausend Toten durch die A-Bombe und einer Million Opfer durch eine Invasion, eine These, die auch nach 75 Jahren für viel Widerspruch sorgt, unterliegt ihr doch die Annahme, dass Japan wegen der Atombomben kapituliert hätte.

Zehn Jahre nach Hiroshima, am 9. Juli 1955, erscheint das Einstein-Russell-Manifest, ein Aufruf von elf Wissenschaftlern. In der Annahme, ein dritter Weltkrieg würde mit nuklearen Waffen geführt werden, rufen sie eindringlich dazu auf, Konflikte friedlich zu lösen, ein Appell an die Humanität, der Hinweis auf das „Paradies als Alternative zum universalen Tod“. Russel war ein Philosoph, Mathematiker und Literaturnobelpreisträger (1950). Im Oktober 1945 plädierte er in einem Artikel für einen nuklearen Präventivschlag gegen die UdSSR und für die Errichtung einer Weltregierung durch die USA: wieder eine Plausibilitätsbetrachtung, wie jene bei Stimson, nun das Leben hunderttausender Russen gegen das Überleben der ganzen Welt. Das Böse in Moskau, Sieger in Berlin mit unsäglichen Opfern – das Gute in Washington, auch Sieger in Berlin, das jedoch eben Hiroshima und Nagasaki vollbracht hatte. Als die Sowjetunion im Jahre 1949 selbst eine Atombombe zündete, änderte Russell seine dunkle Zukunftsvision zugunsten des fünf Jahre später erscheinenden Manifests. Als dies publik wurde, war Einstein bereits einige Monate tot. Die Mahnungen zeigten einige Wirkung in der wissenschaftlichen Welt und führten im Jahre 1957 zur Gründung der Pugwash-Bewegung, die 1985, vor 35 Jahren, den Friedensnobelpreis erhielt, die Bewegung und ihr damaliger Vorsitzender, Jo Rotblat, wohl jüngster Mitunterzeichner des Russel-Einstein-Manifests.

Zum Jubiläum der Trinity-Bombe erklärte das Weiße Haus im Juli dieses Jahres: „Dieses bemerkenswerte Zeugnis großer Ingenieur- und Wissenschaftskunst war die Kulmination des Manhattan-Projekts, das half, den 2. Weltkrieg zu beenden und eine unvergleichliche Ära globaler Stabilität, wissenschaftlicher Innovation und ökonomischen Fortschritts einzuleiten.“ Dagegen erhob das japanische Pugwashkomitee am 20. Juli 2020 umgehend Einspruch: „Wir […] widersprechen dieser Feststellung entschieden, die nicht nur für alle Hibakushas (die Überlebenden der Atombombenabwürfe – MK) inakzeptabel sondern auch unwahr ist: historische Tatsachen zeigen, dass die Atombomben nicht der entscheidende Faktor der Beendigung des 2. Weltkrieges waren. Tatsächlich, waren Kernwaffen eine wesentliche, destabilisierende Kraft in der Weltpolitik und sind eine Gefahr für die Menschheit.“

Man diskutiert in diesen Tagen was schlimmer sei, die Atomwaffen oder der Klimawandel. In SPIEGEL online schreibt Ulrich Kühn am 5. August, „das größte Grauen […] (ist) nicht der Nuklearkrieg, es ist wahrscheinlich die schleichende Erderwärmung“. Es gibt ein bedeutendes Buch, „The Making of the Atomic Bomb“, von Richard Rhodes, das 1986 erschien und den Pulitzer-Preis gewann. Rhodes, nun 83 Jahre alt, diskutiert in einem Leitartikel im Bulletin of the Atomic Scientists am 6. August 2020 die eigentliche politische Erkenntnis aus der Entwicklung der Atomwaffen. Er erinnert an Niels Bohr, der Franklin Roosevelt 1944 erklärt, man sei in einer ganz neuen Situation, die man mit Kriegen nicht mehr lösen könne. Dies wurde 1985 von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan in Genf aufgegriffen: „Ein Kernwaffenkrieg kann nicht gewonnen werden und darf nie stattfinden.“ Rhodes würdigt schließlich Olof Palme, Willy Brandt und Egon Bahr, die das Konzept der gemeinsamen Sicherheit entwickelt hätten. Sicherheit nicht gegen- sondern miteinander, dies sei die einzige Hoffnung. Kollektive Sicherheit hieß es auch im Osten.

Heute verfügen die USA und Russland noch über sagenhafte 13.000, sowie die anderen, nun sieben Staaten über 1200 Sprengköpfe. Man ringt um die Verlängerung des 50 Jahre alten Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen. Plötzlich verlangen die Kernwaffen und der Klimawandel das Gleiche: sie erfordern gemeinsame Sicherheit, nicht einer zuerst („first“), sondern alle gemeinsam. Man streitet darüber, ob Einstein das Folgende gesagt hat: „Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“ Man traut es ihm zu, und man ist besorgt. Das Russell-Einstein-Manifest verlangt, die Humanität über alles zu stellen. Die Menschheit hat sich trotzdem an den Rand ihrer Existenz gebracht. Stringentes Handeln befördert eher ein Virus, der heute jeden befallen kann. Hiroshima und Nagasaki waren gestern, so scheint es, und die Temperaturen steigen ja langsam, so denkt man. Der Kampf für atomare Abrüstung und der gegen den Klimawandel gehören zusammen, so Rhodes. Sie seien die große Herausforderung an die junge Generation, die in der Welt Autorität gewinnt. Beide zu bestehen, das sei die Chance, die Welt zu erneuern und zu erhalten. Es geht nicht ohne Vernunft, Bildung, Herz und Toleranz, möge Einstein sich doch einmal geirrt haben.