„Jede historische Monographie […] ist,
gewollt oder nicht, zugleich auch ein Buch
über die eigene Zeit, ja ihr Spiegel.“
Mischa Meier
Um ein opus magnum wie die „Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr.“ von Mischa Meier (1532 Seiten, davon über 400 Seiten wissenschaftlicher Apparat) in der ihm angemessenen Weise rezensierend zu bewerten, bedarf es einer Sachkenntnis, an der es dem Blättchen-Besprecher ganz eindeutig gebricht. Das ist im vorliegenden Falle jedoch insofern kein Beinbruch, als Hartwin Brandt, seines Zeichens Professor für Alte Geschichte an der Universität Bamberg und derzeit an einer Gesamtdarstellung der römischen Kaiserzeit arbeitend, einen entsprechenden Beitrag bereits geleistet hat – nachzulesen in der ZEIT 18/2020. Brandts Fazit: Das Werk sei „– im wahrsten Sinne des Wortes – ein Meilenstein“ und habe „viel zu bieten: Einsichten in die Zusammenhänge von Außenpolitik, inneren Strukturen, Naturkatastrophen und Wanderungsbewegungen, aber auch in die mentalen Folgen von derlei dramatischen Veränderungen“.
Was also hätte der dilettierende Laie dann hier noch zu „verkünden“? Zumal wenn er sich dem Urteil Brandts ohne Abstriche anschließt.
Schau’n wir mal.
Aus dem DDR-Geschichtsunterricht sind dem Besprecher zum Thema Völkerwanderung nur noch die Vandalen in Erinnerung, kommend irgendwo aus dem europäischen Osten, schließlich Nordafrika erobernd und zwischendurch eine solche Spur an grausamen Eroberungen, Plünderungen, Massakern und anderen Kriegsgräueln durch diverse Lande ziehend, dass ihr Name bis zum heutigen Tage als Synonym für sittenwidriges Verhalten Bestand hat. Der Begriff der Völkerwanderung als solcher ist dabei im DDR-Unterricht nicht nur nicht hinterfragt, sondern durch die Züge der Vandalen wie auch anderer Landsmannschaften (Goten, Hunnen, frühe Franken, Germanen und weitere) vielmehr exemplifiziert worden.
Gerade in dieser Hinsicht jedoch bietet Mischa Meier völlig andere Sichtweisen an und belegt diese, soweit die Quellen dies hergeben:
- So setzt Meier „Völkerwanderung“ – dieser „deutsche Terminus […] als übergreifender Begriff für eine kohärente Epoche“ sei seit den 1790er Jahren gebräuchlich – grundsätzlich in Anführungszeichen und verweist darauf, „dass landläufige Vorstellungen von Migration in der Regel den Nationalstaat voraussetzen“ und „den Übertritt von einem Staat in einen anderen“ beinhalten. Solches Herangehen griffe „für die Antike, die keine Nationalstaaten im modernen Sinne kennt, natürlich nicht“. Insofern sei zum Beispiel „Vorsicht geboten, wenn es darum geht, sich mit zeitgenössischen Wanderungsbeschreibungen auseinanderzusetzen. Häufig verbergen sich dahinter ganz andere Prozesse, die lediglich in ein stereotypes Erklärungsraster eingepasst worden sind.“ Prozesse – als da seien: „Krieg und Bürgerkrieg, demographische Probleme, Katastrophen, Hungerkrisen und die Anreize, die von wohlhabenden Gemeinschaften (wie dem west- und dem oströmischen Reich – A.M.) ausgehen“. Folge sei „eine fehlende Differenzierung zwischen Mobilität und Migration“. Die Forschung habe in den letzten Jahren „eine Reihe von Argumenten zusammengetragen, die ‚Völkerwanderung‘ nicht vornehmlich aus dem Aspekt der Migration heraus zu konzeptualisieren“. Der Besprecher findet Meiers Paradigmenwechsel angesichts der „Hekatomben“ an ausgebreiteten Belegen schlüssig.
- Meiers zweiter nicht minder fundamentaler Paradigmenwechsel, den er ebenfalls ausführlich begründet, besteht darin, dass er „die politischen und sozialen Gebilde, in denen man in der Vergangenheit […] Hauptakteure der ‚Völkerwanderung‘ gesehen hat – also […] Vandalen, Goten, Burgunder, Slawen, Bulgaren usw. – […] nicht mehr als ‚Völker‘“ auffasst, „sondern als Identitätsgruppen, deren Zusammenhalt und Stabilität von wechselnden Faktoren abhängig war“. Das richtet sich direkt gegen die im Kontext der „Völkerwanderung“ seit Ende des 18. Jahrhunderts „verdichtete […] Vorstellung von Völkern als festgefügten, kohärenten und überzeitlichen Einheiten“. Alternativ findet Meier nachvollziehbare Indizien dafür, dass etwa „‚die Goten‘ letztlich ein Produkt römischer Kategorisierungs- bzw. Sortierungsbemühungen“ seien, um „eine gewisse Ordnung in das unübersichtliche Gewirr unterschiedlichster Verbände jenseits des germanischen Limes zu bringen“. Ähnliche Befunde breitet Meier auch für Hunnen, Vandalen, Franken, Alemannen, Thüringer und weitere aus und meint im Hinblick auf deren von der Wissenschaft in vielen Fällen bis dato ungeklärte „Herkunft“ folgerichtig, dass die Frage „einfach falsch gestellt“ sei; „sie kommen nirgends her, sondern sind das Ergebnis der Ethnogenese“ jenseits der (durchaus fließenden) Ränder des Römischen Reiches.
Und apropos soweit die Quellen dies hergeben: Immer wieder macht Meier darauf aufmerksam, dass praktisch sämtliche schriftliche Quellen, die zu einer europäischen Geschichtsschreibung vom 3. bis zum 8. Jahrhundert herangezogen werden können, west- oder oströmischer Provenienz sind. Goten, Hunnen, Vandalen, frühe Franken sowie Germanen und andere nichtrömische Verbände in den von Meier behandelten Jahrhunderten haben praktisch keinerlei schriftliche Zeugnisse hinterlassen. Die vorhandenen Quellen, so Meier, „nötigen uns damit unweigerlich stets eine römische Perspektive […] auf“. Auch darin besteht eine der grundlegenden Schwierigkeiten bei der Analyse und Darstellung der in Rede stehenden Periode der Geschichte in Europa, Asien und Afrika.
Die Lektüre von Meiers anspruchsvollem Werk setzt Durchhaltevermögen voraus. Angesichts des schieren (physischen) Gewichtes des Werkes verbietet sich dabei ein Lesen im Liegen von vorn herein. Auch im Sitzen, den Trumm in Händen, wird es in kürzester Zeit schwierig. Das Buch auf fester Unterlage hingegen dürfte die optimale Variante sein. Der Besprecher brachte sein Stehpult zum Einsatz und hat gleichwohl trotzdem nie mehr als 50 Seiten „am Stück“ geschafft. Auch dies wegen des Gewichtes, in diesem Falle jedoch des intellektuellen gepaart mit einem schier unglaublichen Faktenreichtum.
Das alles mag durchaus nach Mühsal klingen, doch der Leser wird reichlich entschädigt. Nicht zuletzt durch besonders spannende Passagen wie – um nur einige wenige zu nennen – jene über:
- die Erstürmung Roms durch die Barbaren (zeitgenössisches Synonym für jegliche Nichtrömer) unter dem „Goten“-Führer Alarich am 24. August 410; Alarich war zuvor keineswegs barbarisch genug gewesen, um nicht zum römischen General erhoben zu werden.
- die Hunnen, „das wohl größte Rätsel der ‚Völkerwanderungszeit‘“ und über Attila, „den mächtigsten uns bekannten Hunnenherrscher[…]“, die „personifizierte[…] Geißel Gottes“.
- die Geschichte Chlodwigs I., der als Begründer des Frankrenreiches gilt, aber mitnichten „als fremder Eroberer“ kam, denn er fungierte zuvor als offizieller „Verwalter der (römischen – A.M.) Provinz Beligica II“. Ganz Kind seiner Zeit, stiftete der schon mal einen Untergebenen „zum Vatermord“ an, um „anschließend diesen selbst beseitigen“ zu lassen.
- die Vandalenherrschaft in Nordafrika unter ihrem wichtigsten Herrscher Geiserich, des vielleicht größten Barbarenführers des gesamten 5. Jahrhundert. Beachte: Nicht in der Schlacht von Adrianopel 378 (schwerste Niederlage der Römer gegen die Germanen) und in den Plünderungen Roms 410 (durch Alarich) sowie 455 (durch die Vandalen unter Geiserich) sehen manche Historiker „den Anfang vom Ende des Weströmischen Reiches“, sondern erst „in der vandalischen Eroberung Karthagos 439“, womit Rom seiner Kornkammer, gewaltiger Steuereinnahmen und eines erheblichen Reservoirs zur Rekrutierung von Humankapital für seine Legionen verlustig ging.
Zwar befleißigt sich Mischa Meier, wie von einem ordentlichen deutschen Hochschulprofessor nicht anders zu erwarten, durchweg eines wissenschaftlichen, vulgo a priori unsaloppen Stils, doch gestattet sich der Autor immer mal wieder und jeweils völlig unerwartet solche „auflockernder“ Einsprengsel wie die folgenden:
- Der spätere römische Kaiser Constantius III. (370–421) habe einem „umtriebigen“ Konkurrenten „die Ohren lang gezogen und bei dieser Gelegenheit auch gleich abgeschnitten“.
- Aufmüpfige Gegner wie den „Quadenkönig Gabinius“ lud der römische Kaiser – in diesem Falle Valentian I. (321–375) – schon mal „zu einem Gastmahl ein und ließ ihn dort hinterrücks ermorden – eine durchaus bewährte Strategie“.
- Ostgotenkönig Theoderich der Große (451/56–526) „betrachtete […] die Ausschaltung missliebiger Konkurrenten oder Gegner als ehrliches Handwerk, das es persönlich auszuführen galt“.
Einigermaßen befremdlich allerdings erscheint es dem Besprecher (Atheist), dass Meier etliche Male über den Ausgang historischer Ereignisse „durch Intervention himmlischer Mächte“ in einer Art und Weise berichtet, als gäbe er damit keine Legenden, sondern tatsächliche Fakten wieder:
- 617/18 zogen Slawen und Awaren „mit imposanten Belagerungsmaschinen“ gegen die nordgriechische Metropole Thessalonike: „Nach einer 33-tägigen Belagerung gelang es dem heiligen Demetrios (gestorben um 306 – A.M.) wieder einmal (Hervorhebung – A.M.), die Stadt vor der Erstürmung zu bewahren.“
- Die nahezu tödliche Belagerung der Hauptstadt des oströmischen Reiches durch die Awaren im Jahre 626 habe mit der „wundersame[n] Errettung Konstantinopels durch das persönliche Eingreifen der Gottesmutter“ geendet.
Doch diese Petitessen ändern nichts am – wie deutlich geworden sein dürfte – durchweg positiven Urteil des Besprechers.
Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., Verlag C. H. Beck, München 2020, 1532 Seiten, 58,00 Euro.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Goten, Hunnen, Mischa Meier, Rom, Vandalen, Völkerwanderung