23. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2020

Mehr als nur Gereimtes

von Mathias Iven

„Doch fang ich immer wieder an
Im ungezähmten Dichterwahn
Und konstruir am rechten Ort
Langkurz das rechtbedachte Wort“

Barlach der Bildhauer, Schriftsteller, Briefschreiber – aber Barlach als Dichter? Der nunmehr elfte Band, der seit 2006 von Ulrich Bubrowski im Alleingang verantworteten Ausgabe von Barlachs Nachgelassenen Werken vereint erstmals etwa einhundertfünfzig Gedichte und Verse, einschließlich der (Vor-)Arbeiten, „die lediglich einen Fragmentcharakter aufweisen oder sich im Zustand embryonaler Ausgestaltung befinden“. Barlach selbst hätte solcherart  Veröffentlichung sicherlich nicht zugestimmt, wollte er doch keine Arbeiten zeigen, „die unfertig, mir selbst noch problematisch, in Versuchsstadien, jedem Mißverstehen preisgegeben sind“. Gesamtausgaben nehmen darauf keine Rücksicht, zumal sie damit für die interessierte Leserschaft eine bisher weitgehend unbekannte Seite eines so vielseitig begabten Künstlers, wie es Barlach nun einmal war, erschließen können.

Für Ernst Barlach waren die Gedichte – wie auch all seine anderen Werke – eine „Herzensangelegenheit höchsten Grades“. Die „kleinen Reimereien“ gehörten zu seinem Alltag und waren für ihn nicht nur „Machwerke“ oder „Torheiten“, sondern Dinge, „an denen ich mich selbst jedenfalls am meisten freue“. Über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten hinweg entstand ein umfangreiches Tableau von Gedichten verschiedenster Art. Man ist beeindruckt von dem großen Reichtum an Themen, Formen und sprachlichen Einfällen, die nicht zuletzt auch von Barlachs Lektüre geprägt wurden. Goethe, Heine, Rilke, aber auch Burns oder Byron waren ihm Vorbilder. Einige der für Barlach besonders wichtigen, von ihm in seinen Notizbüchern festgehaltenen Gedichte hat Bubrowski im Anhang des Bandes unter der Überschrift „Adoptierte Gedichte“ zusammengefasst.

Der weitaus größte Teil der Texte entstand in dem Jahrzehnt bis 1908, so auch die eingangs zitierten Zeilen. Da wurden Veränderungen in den Lebensumständen thematisiert, wie zum Beispiel der Wechsel von Hamburg nach Berlin im Oktober 1899 – Barlach dazu: „Jetzt hab ich keine Schmerzen mehr / Das Rheuma ist verflogen: / Ich bin auf Nimmerwiederkehr / Von Hamburg nach hier verzogen. // Doch bin ich auch hier nicht ohne Klage: / Für Rheuma tauscht ich Wanzen / Berlin hält Hamburg wohl die Waage / im Großen und im Ganzen“. Oder „Sinnsprüche“ formuliert: „Es kommt auf die innern Gewalten an / Die ein Mensch in sich entfalten kann.“ Auch das unmittelbare Güstrower Wohnumfeld fand Eingang in Barlachs Verse. Während der Arbeit an seinem Roman „Der gestohlene Mond“ erinnerte er sich an ein altes Volkslied, das er mit Blick auf die sich verändernden politischen Verhältnisse in den dreißiger Jahren und die gegen ihn gerichteten Anfeindungen kurzerhand umdichtete: „Ringel rangel Rosenkranz / Unser Heidberg ist noch ganz.“

Die bisherige Publikationsgeschichte von Barlachs „Reimereien“ ist überschaubar. Zu seinen Lebzeiten erschien nur ein einziges Gedicht – das allerdings gleich in drei verschiedenen, jedoch abseitigen Organen. Im vorliegenden Band findet man neben der 1920 veröffentlichten Fassung von „Die Wolke“ auch den wahrscheinlich 1903 entstandenen Urtext sowie die Ende 1935 überarbeitete und erweiterte, seiner Lebensgefährtin Marga Böhmer zugeeignete Variante. 1940 kam „Die Wolke“ dann noch ein weiteres Mal in der Monatsschrift Niederdeutsche Welt zum Abdruck. Im Rahmen der 1958 vom Piper Verlag vorgelegten dreibändigen Werkausgabe wurden lediglich fünf Gedichte aufgenommen, schließlich fanden in der zehn Jahre später veröffentlichten Briefedition noch zwei weitere Texte ihren Platz.

Es ging Ernst Barlach mit seinem Schreiben nie, so fasst es Bubrowski zusammen, „um einen prestigeträchtigen Platz auf dem Friedhof der Literaturgeschichte. Barlach schrieb eben, wie er immer wieder betont, ,nur für mich‘ und ,auf meine Weise‘.“ Gattungstechnisch handelt es sich bei ihm um „ein autozentriertes Schreiben, das seinen Sinn eher im Akt des Schaffens als im Geschaffenen selbst findet. Es ist Medium einer Selbsterfahrung, Selbstvergewisserung, Selbstbeglückung.“ Das bedeutet: Ohne diese jetzt veröffentlichten Texte bliebe das Bild des Künstlers Barlach unvollständig.

Ergänzt wird der Band durch Nachträge zu den bisher publizierten Bänden „Kleine Schriften“, „Halbfertige Dinge“ und „Privatkram“ sowie einen aus dem April 1937 stammenden kurzgefassten Lebenslauf Barlachs. – Man darf gespannt sein, was uns diese einzigartige Werkausgabe noch präsentieren wird.

Ernst Barlach: „Reimereien“. Gedichte, Verse 1892–1936, Ernst Barlach Gesellschaft, Hamburg 2019, 306 Seiten, 29,90 Euro.