23. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2020

Mauern für eine bessere Welt

von Erhard Weinholz

Zur hohen Schule des Herrschens gehört die Fähigkeit, unpopuläre Maßnahmen wenigstens halbwegs glaubwürdig zu rechtfertigen. Die Partei- und Staatsführung der DDR tat sich damit schwer: Sie musste oft genug Dinge verschleiern oder leugnen, die fast jeder wusste, da blieb die Logik auf der Strecke. So auch beim Mauerbau: Der Staat steckte offensichtlich in der Krise, zumal die rasche Vergenossenschaftung der privaten Landwirtschaft, die man erstrebte, nur mit viel Druck zu erreichen war. Hinter vorgehaltener Hand wurde einem hier, da und dort zugeflüstert, wer gerade abgehauen sei oder, wie es im Amtsdeutsch hieß, Republikflucht begangen habe. In der Presse las man davon nichts; je größer die Probleme, desto weniger durfte man darüber reden. Zu jener Zeit, 1960 oder ’61, wurde bei uns im Wiesenburger HO zum letzten Mal Butter lose verkauft, sie kam in großen Blöcken aus der Sowjetunion, hatte eine kräftigere Gelbfärbung als die hiesige Ware und schmeckte etwas salziger. Mit solchen Hilfsaktionen war die Fluchtwelle jedoch nicht zu bremsen; viel zuschießen konnte die Moskauer Führung auch gar nicht, sie hatte genug mit eigenen Schwierigkeiten zu tun.

Die Lage war also staatsgefährdend, revolutionär konnte sie – anders als im Jahre 1989 – jedoch nicht sein. Und so ist es mir trotz längeren Nachdenkens nicht gelungen, eine Alternative zum Mauerbau zu benennen, die sich mit einiger Wahrscheinlichkeit hätte verwirklichen lassen. Es spielen dabei ganz unterschiedliche Interessen mehrerer Seiten eine Rolle; man kann die Szenarien auch kaum bis ins Letzte durchspielen. Der Mauerbau hat die Ordnung in der DDR gerettet, jedoch um einen hohen Preis: Das Grenzregime wurde, neben dem repressiven Wirken des MfS, zum Symbol ihres freiheitsfeindlichen Charakters und zum Grund ständiger Unzufriedenheit: Stets war zu spüren, dass man als Untertan und nicht als Bürger galt. Zu dieser Mauer passte auch die Legende ihrer Erbauer, sie hätten sie nur zum Schutz des Friedens errichtet: Beides waren Zumutungen, die man öffentlich nicht in Frage stellen durfte.

Zur Legende tendiert für mein Empfinden aber auch eine ganz anders geartete Erzählung, die sich ebenfalls mit der Mauer verbindet, diesmal aber mit dem Mauerfall: Eben noch, so liest man bei einigen 89er Revolutionären, habe das Volk bei der Großdemonstration vom 4. November seinen Willen zur Revolution gezeigt, zur Umgestaltung des Landes im Sinne eines demokratischen Sozialismus sogar. Da öffnete die Führung plötzlich die Mauer, das Volk stürmte westwärts, ließ sich von Bananen verführen, das Tor zur deutschen Einheit war aufgestoßen, und um die Revolution war es geschehen. Denn nicht der Befreiung habe diese Aktion gedient, sie sollte vielmehr durch „Dampfablassen aus dem revolutionären Druckkessel“ die Macht der Führung erhalten beziehungsweise, dies die zweite Variante, als Kapitulation vor kurz zuvor gestellten Forderungen des Westens dessen Hilfe sicherstellen. Eine Revolutionsregierung hingegen hätte die Mauer auf eine Weise öffnen können, dass die Revolution nicht zu Schaden kommt. Rezepte dafür erfahren wir jedoch nicht. Die Deutschen, so schließen diese Vorwürfe oft, hätten wieder einmal nur eine halbe Revolution, dafür aber eine ganze Konterrevolution zustande gebracht.

Recht plötzlich kam der Fall der Mauer tatsächlich, ins Auge gefasst hatte die Führung die Gewährung von Reisefreiheit dem Anschein nach aber bereits eine Weile zuvor. Mit Datum vom 10. Oktober finde ich in meinen Notizen den Eintrag: „Reinhold hatte zur Eröffnung des Parteilehrjahrs im Rundfunk gesprochen, (… ), allen Kritikern Recht gegeben, ein wenig auf die Aussprache vor dem Parteitag vertröstet, des weiteren angedeutet, daß bald allgemeine Möglichkeit freien Reisens in den Westen gewährt werde (von diesem Vorhaben hatte ich anderswo schon gerüchteweise gehört).“ Reinhold, das war Prof. Otto Reinhold, Mitglied des ZK der SED; mit dem Parteitag war der ursprünglich für 1990 anberaumte XII. Parteitag der SED gemeint; mitgeteilt hatte mir das alles eine Freundin, die beim Rundfunk tätig war. Allerdings hatte sich die Obrigkeit diese Maueröffnung anders gedacht als sie dann ablief, wohlgeordnet nämlich. Ich schließe das aus dem vom ZK-Apparat verfassten Entwurf eines Reisegesetzes, den Armeegeneral Dickel, seit 1963 DDR-Innenminister, am 6. November im Fernsehen vorgestellt hatte; es war sein erster und letzter Auftritt dort, in seinem schwarzen Anzug sah er aus wie ein Bestattungsunternehmer.

Das neue Gesetz hätte dem Staat in Reisesachen immer noch das letzte Wort gelassen und wurde von der Öffentlichkeit umgehend abgelehnt. Druck kam in dem Zusammenhang auch vom Nachbarn im Süden: Seit Anfang November konnte man wieder visafrei in die ČSSR reisen, und DDR-Bürger versuchten nun von hier aus in den Westen zu gelangen, sehr zum Missfallen der Führung in Prag. An einer Maueröffnung ohne Wenn und Aber führte also, wie es aussah, kein Weg mehr vorbei. Wie sie sich dann am Abend des 9. November vollzog, auch das war, so vermute ich, in den Plänen der Herrschenden nicht vorgesehen. Dass sie hofften, mit dieser Aktion auch Forderungen der Bundesregierung zu erfüllen, kann man annehmen. Nur als Kapitulation vor dem Westen sollte man den Mauerfall dennoch nicht verstehen und schon gar nicht als bloßen Schurkenstreich von Krenz & Co.; gegen das eine spricht, dass Reisefreiheit ohnehin auf der Tagesordnung der Führung stand, gegen das andere, dass sie in der gegebenen Form nur durch den Ansturm der Massen zustande gekommen ist.

Die Revolution war mit jenem Tag auch nicht zu Ende, das Interesse an Umgestaltung war weiterhin groß: Als sich Mitte November das Neue Forum Prenzlauer Berg gründete, versammelten sich immerhin fast zweitausend Menschen in der Gethsemanekirche. In den Betrieben und Einrichtungen kamen die Konflikte zwischen Mitarbeitern und Leitung oft jetzt erst zum Ausbruch, die Besetzung der Stasi-Dienststellen stand noch bevor. Vom Sozialismus war aber bald kaum noch die Rede. Hatten die Volksmassen ihre Gesinnung gleich beim ersten Westausflug irgendwo beim Einkauf liegengelassen, wie es die erwähnte Legende nahelegt? Vermutlich hat der Anblick der Warenwelt im KaDeWe manchen die Entscheidung für den Westen erleichtert, mit einem Schlag den Verlust tief wurzelnder Überzeugung bewirkt haben kann er aber wohl kaum.

Alles in allem, so scheint mir, war die ganze Entwicklung dieser Revolution, die Richtung Westen führte, angelegt im Bewusstsein der Massen, auch wenn dieses Bewusstsein in sich widersprüchlich war, Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen einschloss, die auf den Osten verwiesen, und obendrein im Laufe des 89er Herbstes hier und da ein Interesse an Selbstbestimmung hervorbrachte, das über die bloße Teilnahme an freien Wahlen erheblich hinausging. Er war angelegt im Bewusstsein der meisten, ohne dass sie es wussten; der Mauerfall hat allenfalls Tendenzen verstärkt, die sich ohnehin bald gezeigt hätten. Dafür sprechen auch die Verläufe in den anderen realsozialistischen Ländern; die Vereinigung von DDR und BRD war nur der deutsche Sonderweg der Rückkehr des Kapitals. Weshalb die Regierung die Mauer geöffnet hatte, war für die Westerfahrungen der Massen und die Schlüsse, die sie aus ihnen zogen, dagegen nicht von Belang.

Was die Alternative zur Maueröffnung vom 9. November gewesen wäre, dazu sagen die Verfechter der eingangs erwähnten Legende nichts. Aber so sehr viele Möglichkeiten gibt es da auch gar nicht. Eigentlich nur eine: dass die Westgrenze zunächst geschlossen bleibt. Doch wer meint, das Volk müsse erst einmal seine revolutionären Hausaufgaben machen, ehe es in den Westen spielen gehen darf, beansprucht Vormundschaft. Hatte man die aber nicht gerade beenden wollen?