23. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2020

Konzentrationslager auf Rügen?

von Dieter Naumann

Die im Februar 1933 durch die Nationalsozialisten erlassene Verordnung zum „Schutz von Volk und Staat“, eher als „Reichstagsbrandverordung“ bekannt, bildete die „Rechtsgrundlage“ für die ungehemmte Verfolgung Andersdenkender. Tausende von politischen Gegnern, später auch diejenigen, die nicht der „Volksgemeinschaft“ entsprachen, Juden, Zivilisten aus den besetzten Gebieten, sowjetische Soldaten wurden in Internierungs-, Arbeits- und Vernichtungslager verschleppt.

Auch Rügen sollte davon ursprünglich nicht verschont werden: Im April 1933 erhielt der Stettiner Regierungspräsident ein Schreiben aus Berlin, wonach beabsichtigt werde, auf einer Insel oder Halbinsel in der Nähe von Rügen oder Zingst ein Konzentrationslager für politische Häftlinge zu errichten. Das Kommando der Schutzpolizei von Stettin schlug dem Stettiner Regierungspräsidenten ein Konzentrationslager auf dem Bug vor, alternativ wurden unter anderem die Südspitze von Hiddensee, die Inseln Greifswalder Oie und Vilm sowie das Zickersche Höft bei Groß Zicker in Betracht gezogen. Hiddensee wurde sofort abgelehnt, man fürchtete Aufsehen unter den zahlreichen Touristen und wollte die Naturschutzgebiete nicht angreifen. Auch der Bug kam nicht in Frage, weil die Militärs hier einen Marinefliegerhorst einrichten wollten und deshalb keine Konzentration von Oppositionellen gebrauchen konnten. Letztlich gab es in ganz Mecklenburg-Vorpommern „nur“ KZ-Außenlager: 14 Außenlager des KZ Ravensbrück sowie vier Außenlager und zwei zeitweilige Außenkommandos des KZ Neuengamme. Auf der Insel Rügen wurde ein kleines Außenlager des KZ Ravensbrück in Sassnitz errichtet.

Die NS-Führung hatte schon vor Kriegsbeginn Anstrengungen zur weitgehenden Autarkie, zur Unabhängigkeit von Wirtschaft und Landwirtschaft von Lieferungen von außen unternommen. Eine Ernährungskrise wie im Ersten Weltkrieg sollte aus Furcht vor Hungerrevolten unbedingt vermieden werden. Die SS gründete die „Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung GmbH“, ein Konglomerat von mehr als 40 verschiedenen Einzelunternehmungen mit insgesamt 150 Werken und Betrieben, in denen auch KZ-Häftlinge ausgebeutet wurden, unter ihnen Zeugen Jehovas (bis 1931 Ernste Bibelforscher) aus dem KZ Ravensbrück.

Die Bibelforscher waren begehrt, denn die SS schätzte Fleiß und die Sorgfalt, mit denen sie die erteilten Aufträge – sofern sie nicht ihren Überzeugungen widersprachen – zu erledigen pflegten. Da die Zeugen Jehovas aus Glaubensgründen eine Flucht aus dem Lager ablehnten – sie sahen ihr Schicksal ganz in die Hand Gottes gelegt –, setzte man sie gern außerhalb der Lager an schwierig zu überwachenden Arbeitsplätzen ein; ihre religiös begründete unbedingte Ehrlichkeit führte dazu, dass sie von der SS für Vertrauensposten (zum Beispiel als Kalfaktoren) bestimmt wurden, brachte aber auch vereinzelt andere, vor allem politische Häftlinge in Gefahr.

Vergleichsweise „erträgliche“ Bedingungen und Überlebenschancen (im Vergleich zum Stammlager) berichteten einige der Häftlinge, die in den letzten Kriegsjahren zum Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft in die zur „Versuchsanstalt“ gehörenden Betriebe abkommandiert wurden. In der Literatur wird ein namentlich nicht genannter Häftling erwähnt, der feststellte, dass auf Rügen „die schönste Zeit seines Lagerlebens war“ – was wohl nur vor dem Hintergrund des bereits Erlittenen im Hauptlager Ravensbrück verstanden werden kann. So zitiert die Broschüre über die Sassnitzer Stolpersteine den ehemaligen Häftling Gustav F.: „Als Bibelforscher kam ich aufgrund meiner Glaubensüberzeugung in die Strafkompanie und mußte vier Monate lang unter Entzug jeglicher Verpflegung jeden Sonntag […] in der Zeit von 14-20 Uhr am Tor stehen. Bei Vernehmungen der politischen Abteilung wurden mir, […], meine Zähne lädiert […] Durch schwere Arbeit in der Strafkompanie habe ich mir einen doppelten Leistenbruch zugezogen.“

Das Außenlager des KZ Ravensbrück für die „Reichsarbeitsgemeinschaft für die Verwertung von Meeresalgen für Volksgesundheit und gegen Mangelkrankheiten, Zentral-Institut Saßnitz auf Rügen für Ost- und Nordsee“ in Sassnitz wurde Ende März 1945 eingerichtet. In einer etwa sechs mal drei Meter großen Häftlingsbaracke in der ehemaligen Luisenallee (heute Karl-Liebknecht-Ring) im damaligen Weddingpark und im Außenbereich mussten etwa 15 Häftlinge, vor allem Zeugen Jehovas (soweit bekannt zwischen 1890 und 1914 geboren), als Handwerker und Gärtner arbeiten. Eine weitere, etwa vier mal drei Meter große Baracke diente zur Aufbewahrung des Werkzeugs und enthielt Tisch und Bänke, wo die Häftlinge ihre „Mahlzeiten“ einnahmen. Alle Baracken waren mit Stacheldraht eingezäunt und konnten nicht beheizt werden.

Acht der Häftlinge (darunter je ein Niederländer und Pole) sind namentlich bekannt und durch Stolpersteine gewürdigt, zwei weitere konnten durch eine im August 2018 erfolgte Rechercheanfrage des Autors an das Archiv des International Tracing Service in Bad Arolsen (Digital Archive) ermittelt werden.

Leiter der „Reichs-Arbeits-Gemeinschaft“ und zugleich Kommandant des Außenlagers Sassnitz war der emeritierte Professor, Maler, Bildhauer und zeitweilige Direktor der Kunstakademie Stuttgart, Arnold Waldschmidt. Bereits 1920 trat Waldschmidt in die NSDAP ein, wurde später Mitglied der SS und erhielt ehrenhalber den Dienstgrad eines SS-Standartenführers und später SS-Obergruppenführers.

Einer der Häftlinge erinnerte sich, dass Waldschmidt auf dem Bahnhof Ravensbrück für eine bessere Verpflegung während des Transportes nach Sassnitz sorgte (ursprünglich sollten die Häftlinge nur eine Scheibe Brot erhalten). Andererseits verweigerte er später mehr Lebensmittel mit der Begründung, die Einwohner von Sassnitz hätten wegen von der Front ankommender Verwundeter nichts, was sie mit den Häftlingen teilen könnten. Laut Aussage eines Häftlings habe es pro Tag eine Scheibe Brot, an manchen Tagen morgens „Ersatzkaffee“ und manchmal Haferflockenbrei gegeben. Es wird von mindestens zwei Sassnitzerinnen berichtet, die den Häftlingen heimlich Brot zugesteckt hätten.

Über die Arbeiten, zu denen die Häftlinge gezwungen wurden, gibt es von Augenzeugen unterschiedliche Angaben. So wird vom Transport von Seetang von der Küste ins Außenlager für Experimente wohl zur Proteingewinnung berichtet, angebliche Gräben für Wasserleitungen (tatsächlich waren es Schützengräben) wurden im harten Kreideboden ausgehoben, ein Gärtner musste Leimringe konstruieren, um Ungeziefer von Obstbäumen fernzuhalten, andere stellten vier große Betonbecken für Fischzucht her. Bei allen Arbeiten wurden sie von etwa sechs SS-Leuten bewacht, aber angeblich nicht angetrieben.

Einer der Häftlinge schilderte, dass die SS-Leute beim Herannahen der Roten Armee das Weite suchten: „Sie stellten sich, in ziviler Kleidung, Koffer in der Hand, mit gezogener Pistole vor uns hin. Wir mußten abzählen […]. Großspurig sagte ein Offizier: ‚Bis jetzt haben wir euch mit Nahrung und Obdach versorgt. Seht nun selbst zu, wie ihr klarkommt.‘ Sie steckten ihre Revolver in die Tasche und gingen weg.“

Waldschmidt wurde nach Kriegsende durch ungeklärte Umstände in die Sowjetunion verbracht und zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt. Später begnadigt, kehrte er 1953 nach Deutschland zurück und lebte bis zu seinem Tod mit seiner Frau in Stuttgart.

Als Kopie liegt ein Dokument des Archivs des International Tracing Service in Bad Arolsen vor, in dem Waldschmidt für einen der Häftlinge mit absurder deutscher Gründlichkeit die Entlassung aus der „Schutzhaft“ wegen der „Besetzung von Saßnitz auf Rügen am 3. Mai 1945“ dokumentiert und ihm attestiert, er habe alle ihm übertragenen Aufgaben gewissenhaft und pünktlich ausgeführt, sei stets fleißig gewesen, habe nie Anlass zu Klagen gegeben.

Ein russischer General veranlasste, dass die Häftlinge im Hotel „Sassnitzer Hof“ in der Bergstraße untergebracht wurden. Alle Häftlinge überlebten, blieben teilweise noch bis in den Juni 1945 in Sassnitz und kehrten dann in ihre Heimatorte zurück.

Die Baracken wurden nach dem Krieg bis Ende der 1960er Jahre als Wohnraum genutzt; nach bisheriger Recherche in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Sassnitz existieren nur Luftbildaufnahmen beider Baracken von 1945 und 1953.